Stadtentwicklung:Die Stadt, in der wir leben

Stadtentwicklung: High Lane, New York

Entschleunigung in der City: Die High Line, eine alte Hochbahntrasse in New York, wurde in eine attraktive Flanierzone umgewandelt.

(Foto: Stan Honda/AFP)

Die Konkurrenz um den Straßenraum ist in vollem Gange - und neue Fahrzeuge verändern die Städte und die Gesellschaft. Was wird sich mit dem E-Scooter ändern?

Von Gerhard Matzig

Vor gut einhundert Jahren machte sich das Auto im Stadtbild bemerkbar. Es eroberte bald darauf den öffentlichen Raum. In jener Epoche soll der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II., gesagt haben: "Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung." Das Zitat ist historisch nicht belegt und möglicherweise nur eine karikierende Zuschreibung - aber die Unmöglichkeit, sich die Zukunft des städtischen Raums und der Gesellschaft überhaupt anders als gehabt vorzustellen, ist weit verbreitet. Ein Mediziner hat in der wilhelminischen Zeit besonders die weibliche Bevölkerung vor den "selbstfahrenden Kutschen" gewarnt, denn die motorgetriebene Schaukelei führe möglicherweise massenweise zu amouröser Enthemmung.

Letzteres ist nicht eingetreten - aber der Kaiser behielt auch nicht recht. Die mittelalterlich geprägten Stadträume der Fußgänger und Pferdefuhrwerke wurden in Europa spätestens im Mobilitätsfuror der Nachkriegszeit von der "autogerechten Stadt" und ihren oft inhumanen, die Ästhetik malträtierenden Betonschneisen abgelöst. Die Anpassung der Stadträume an moderne Mobilitätsbedürfnisse und neue Vehikel des Unterwegsseins hat sich nach dem Krieg vermutlich zerstörerischer ausgewirkt als der Krieg selbst. Insofern darf man sich jetzt sogar fragen, was die nun auch in Deutschland aufkommenden E-Scooter für die Städte bedeuten.

Erst mal wenig. Denn die Scooter werden sich - abhängig von unterschiedlichen Motorleistungen - Straßen, Rad- und Gehwege mit anderen Verkehrsteilnehmern teilen (müssen). Doch andererseits besteht zwischen der Stadtgestalt und der Infrastruktur der Mobilität seit jeher eine enge, zeitlich aber ziemlich dehnbare Verbindung. Bekannt ist eine Sentenz in der Architektur, wonach erst Menschen Häuser bauen, danach aber Häuser Menschen bauen (im Sinn von beeinflussen). Für den Zusammenhang von Stadt und Mobilität ließe sich das so formulieren: Erst bauen Menschen Fahrzeuge - dann verändern diese Fahrzeuge letztlich auch die Städte.

Auf eine besonders bizarre Weise hat dieses Denken kürzlich den ADAC dazu verleitet, den absurden Umbau der Städte zu fordern. Weil es immer breitere und insgesamt fettleibigere Autos gäbe, müssten die Straßen und Parkplätze der Städte entsprechend aufgerüstet werden. Als kaufte man sich als dicker Mensch einfach eine größere Hose - statt endlich mal über eine Diät nachzudenken. Ist die Idee, die Autos könnten sich auch den Städten anpassen, eigentlich abwegig? Man könnte das vermuten, wenn man den Lobbyisten des deutschen Auto-Dorados lange genug zuhört.

Die Konkurrenz um den Straßenraum ist in vollem Gange

Im Gegensatz zu deren eigenartigen Stadtvorstellungen sollte man die Autostraßen nun eher zugunsten der Biker und Scooter, aber auch wegen der gleichfalls zunehmenden Fußgänger und Nutzer öffentlicher Systeme beschneiden. Die Stadtgestalt der europäischen, also dicht bebauten Stadt ergibt sich aus der logischen und angenehmen Abfolge von Hauswand, "Bürger"-steig, Baumzone und Straße. Da ist wenig Platz für neue Player. Die Konkurrenz um den Straßenraum ist daher in vollem Gange. Im Idealfall führt dieser Wettbewerb aber auch zu besseren Städten.

In New York lässt sich seit einiger Zeit erleben, was sich aus einer alten Güterzugtrasse machen lässt: ein aufgeständerter Park für Spaziergänger mitten durch die Häuserschlucht. Und in Kopenhagen vitalisieren dynamisch angelegte Radwege den Stadtraum, ohne ihn zu verhunzen. Auch die tradierte Stadtform ist geschmeidig genug, um sich - behutsam geplant - neuen Mobilitätserfordernissen anzupassen. Nach einem ersten Gerangel um den Verkehrsraum werden sich wohl auch die E-Scooter in die Stadt integrieren lassen. In Wien und anderswo ist das schon längst zu beobachten.

Fraglich ist aber, ob die Behörden auf neue Mobilitäten, die auch neue Realitäten sind, mal etwas wacher reagieren könnten. Erst jetzt, an diesem Donnerstag, wollten die Verkehrsminister der Bundesländer eine "fahrradfreundliche Novelle" der Straßenverkehrsordnung beraten. Als sei es ihnen novellenhaft neu, dass Menschen immer öfter mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs sind. Die Zahl der Rad-Toten ist im vergangenen Jahr um 15 Prozent gestiegen. Es wird also Zeit. Aber nicht, um die Stadt der Mobilität anzupassen, sondern: Die Planer und Behörden müssen den verfügbaren Raum umsichtig und verkehrssicher verteilen. Dabei sollten sie eher Mensch, Natur und Stadtästhetik im Blick haben - als die Wirrungen der automobilen Steinzeit.

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