Staatspräsident:Die Stunde des Schiedsrichters

Sergio Mattarella nimmt seinen Auftrag als Verfassungshüter sehr ernst.

Von Oliver Meiler

Alles schaute zum "Colle", dem Hügel. So, ganz allgemein, nennen die Italiener jene sanfte Anhöhe in Rom, eine von sieben, die in politischen Krisenzeiten plötzlich zum leuchtenden Berg werden soll. Alle wissen Bescheid. Gemeint ist der Quirinal. Dort steht der Palast des Staatspräsidenten, es ist ein wirklich stattlicher Palazzo mit prächtigem Garten und hochgeschossenem Wachpersonal, den Corazzieri. Früher zogen sich Könige und Päpste da zurück. Nun residiert Sergio Mattarella im Palast, ein Christdemokrat aus Palermo, 78, zwölftes Staatsoberhaupt im republikanischen Italien. Das ist seine Stunde, die Stunde des Schiedsrichters. So beschrieb er seine Rolle selbst, als er 2015 ins Amt gewählt wurde. Ein Referee wie beim Fußball, Hüter der Regeln.

Gespielt wird, um beim Bild zu bleiben, in der Sala alla Vetrata, wo Mattarella in den kommenden Tagen die Delegationen aller Parteien empfangen wird, um sich eine Übersicht zu verschaffen über die Mehrheitsverhältnisse im zerrütteten Parlament. Natürlich weiß er das meiste schon. Doch das Ritual der Konsultationen folgt nun mal einer langen Tradition. Was in der Sala alla Vetrata gesagt wird, sollte vertraulich bleiben. Aber es gibt Kanäle nach draußen, manche dienen auch nur der politischen Weichenstellung und der Taktik.

In Krisenzeiten dürfen die Herren des "Colle" eigentlich fast alles

In dieser Phase pflegen die Politiker einhellig zu sagen, sie vertrauten auf den Präsidenten der Republik. Eine Formel der institutionellen Korrektheit, aber nicht nur: Damit zerren sie dem Staatsoberhaupt auch ein bisschen an der Jacke, wie man hier unziemliche Einflussnahmen auf den Staatschef nennt. Wenn etwa Matteo Salvini sagt, er vertraue auf Mattarella, meint er damit, dass der hoffentlich schon so frei sei und seinem Wunsch nach baldigen Neuwahlen stattgibt. Sagt denselben Satz ein Sozialdemokrat, meint er, dass Mattarella sicherlich genau davon absehen werde.

In Krisenzeiten sind Italiens Präsidenten, die sonst Reden halten und Orden verteilen, Regisseure des nationalen Schicksals. Sie dürfen fast alles. Parlamentskammern auflösen und Neuwahlen ausrufen. Übergangsregierungen einsetzen, institutionelle oder technokratische. Neue Mehrheiten ausloten für Kabinette, die dann die restliche Legislaturperiode regieren. Ohne den Segen des Präsidenten wird niemand Premier, für jeden Ministerposten braucht es seinen Zuspruch. So steht es in der Verfassung. Gewählt werden Präsidenten vom Parlament, für sieben Jahre, sie sollen über allem schweben, ganz weise.

Doch natürlich zerfällt bei vielen Politikern der institutionelle Respekt, sobald es nicht nach ihrem Gusto läuft. Der Sozialist Sandro Pertini, Präsident von 1978 bis 1985, sagte einmal entnervt: "Sie hätten mich wohl gerne taub, stumm und blind." Es gab Präsidenten, die ihre Rolle offensiv interpretierten und sich einmischten. Pertinis Nachfolger Francesco Cossiga etwa, ein sardischer Christdemokrat mit scharfer Zunge, trug den Beinamen "Picconatore", Mann mit der Spitzhacke, weil er gerne über seine Gegner herzog. Auch Giorgio Napolitano, Staatschef von 2006 bis 2015, war kein simpler Notar. Man nannte ihn "Re Giorgio". König Georg war ein Interventionist. Über allfällige Spitznamen für Mattarella entscheiden die kommenden Wochen. "Arbitro" wäre ihm am Liebsten, Unparteiischer.

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