Süddeutsche Zeitung

Staatskrise in der Ukraine:Polizei schlägt sich auf die Seite der Opposition

Sicherheitsorgane wechseln in Kiew auf die Seite der Opposition +++ Timoschenko-Vertrauter ist neuer Parlamentspräsident +++ Janukowitsch-Mitarbeiterin: Präsident ist in Charkow und plant Fernsehauftritt +++ Klitschko fordert Abstimmung über Absetzung von Janukowitsch +++

Die Entwicklungen im Newsblog

Umbruch in der Ukraine: Trotz des Abkommens zwischen Regierung und Oppositionsvertretern fordern die Aktivisten auf dem Maidan weiter eine schnelle Absetzung von Präsident Viktor Janukowitsch. Vitali Klitschko will das Parlament davon überzeugen, dass es bald über den Rücktritt des Staatschefs abstimmt. Dieser hat Kiew verlassen, doch wo genau er sich befindet, ist unklar. Am Samstagmorgen war die Residenz des ukrainischen Präsidenten nahe der Hauptstadt Kiew leer und unbewacht. Journalisten können das Gelände unbehindert betreten. Die Abgeordneten hatten zuvor mit breiter Mehrheit für eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 gestimmt und damit für eine Beschneidung der Vollmachten des Präsidenten. SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit schildert ihre Eindrücke vom Vormittag in Kiew.

Polizei schlägt sich auf Seite der Opposition: Die Sicherheitsorgane des ukrainischen Innenministeriums unterstützen in Kiew nun offiziell die Opposition. Das teilte die für die Polizei im Land zuständige Behörde auf ihrer Internetseite mit. Das Innenministerium ruft die Bürger zur Zusammenarbeit mit der Polizei auf, um die Ordnung wiederherzustellen. Das Ministerium unterstütze den Wunsch nach einem politischen Wandel, hieß es in einer Erklärung.

Timoschenko-Vertrauter neuer Parlamentspräsident: Ein Vertrauter der inhaftierten Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, Olexander Turschinov, ist am Samstag zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt worden. Der bisherige Oppositionsvertreter erhielt in der Rada 228 von 450 Stimmen. Kurz zuvor war der bisherige Parlamentspräsident und Vertraute von Staatschef Viktor Janukowitsch, Wolodimir Rybak, zurückgetreten.

Janukowitsch soll sich in Charkow aufhalten: Nach Angaben einer engen Mitarbeiterin hält Janukowitsch sich in der Millionenstadt Charkow auf. "Der Präsident wird heute in Charkow im Fernsehen auftreten", sagte seine Beraterin Anna German der Agentur Interfax. In der Stadt ist für diesen Samstag ein Kongress der regierenden Partei der Regionen geplant. Dem russischen Radiosender Echo Moskwy sagte die Parlamentarierin, Janukowitsch wolle auch noch andere Regionen der Ukraine besuchen und dann nach Kiew zurückkehren. Janukowitsch war nach Medienberichten am Freitagabend überhastet in Begleitung von Vertrauten und Leibwächtern aus Kiew abgereist.

Klitschko fordert Rücktritt von Janukowitsch: Vitali Klitschko betritt am Samstagmorgen die Bühne auf dem Maidan. Wie SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit berichtet, kündigt er an, dass er noch heute im Parlament einen Antrag zur Absetzung von Janukowitsch stellen wird. Sollte er damit erfolgreich sein, hätten sich die Aktivisten auf dem Unabhängigkeitsplatz durchgesetzt. Klitschko forderte zudem, bis zum 25. Mai eine vorgezogene Präsidentschaftswahl abzuhalten und rief: "Heute ist das Parlament die einzige legitime Autorität." Die Aktivisten bereiten sich derweil darauf vor, den Präsidentenpalast zu stürmen. Sie haben Militärbusse und -lastwagen sowie Wasserwerfer okkupiert und stehen zum Abmarsch bereit. Daneben rufen Priester zum Frieden auf. Allerdings warten die Demonstranten offenbar ab, ob der Rücktritt von Janukowitsch nicht doch noch eingeleitet wird. Das Ultimatum, das nationalistische Aktivisten auf dem Maidan an Präsident Janukowitsch gestellt hatten, verstrich um neun Uhr mitteleuropäischer Zeit.

Janukowitschs Residenz offen und unbewacht: Vor seiner Flucht aus Kiw soll Janukowitsch persönliche Dinge aus seiner Residenz abholen lassen. Diverse Medien wie die BBC berichten, dass das Haus offen sei und ihre Reporter durch das Gebäude laufen können. Laut Kyiv Post werden für Journalisten Touren durch das Anwesen organisiert.

Parlamentspräsident tritt zurück, Timoschenko könnte freikommen: Der Präsident des ukrainischen Parlaments und Vertraute von Staatschef Janukowitsch, Wolodimir Rybak, ist am Samstag zurückgetreten. Rybak habe aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt eingereicht, teilte sein Stellvertreter mit. Das ukrainische Parlament hatte am Freitag die Weichen für eine Freilassung der seit knapp zweieinhalb Jahren inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko gestellt. Die Oberste Rada in Kiew stimmte mit großer Mehrheit für ein Gesetz, das die Vorwürfe gegen die ehemalige Regierungschefin nicht mehr als Straftaten wertet. Präsident Viktor Janukowitsch muss das Gesetz noch unterzeichnen, damit es in Kraft tritt. Die Politikerin sitzt seit August 2011 in Haft. Sie war im Oktober 2011 in einem international umstrittenen Prozess wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Die 53-Jährige wird seit etwa anderthalb Jahren in einem Krankenhaus in der Stadt Charkow unter anderem wegen der Folgen eines Rückenleidens auch von deutschen Ärzten behandelt.

Parlament beschließt weitreichende Änderungen: Kurz nach Unterzeichnung des Interimsabkommens zur politischen Zukunft der Ukraine beschloss das Parlament in Kiew die Rückkehr zur Verfassung von 2004. Außerdem stimmten die Abgeordneten einer Amnestie für alle Teilnehmer an den jüngsten Protesten zu. Zudem haben die Abgeordneten die Entlassung von Innenminister Vitali Sachartschenko wegen der Gewaltanwendung während der Proteste beschlossen. Die Entlassung des umstrittenen Ministers, der unter anderem während der blutigen Auseinandersetzungen den Einsatz von scharfer Munition angeordnet hatte, war eine der wichtigsten Bedingungen der Opposition für eine Unterzeichnung des Abkommens. Janukowitsch gehen nach seinen Zugeständnissen an die Opposition immer mehr Abgeordnete seines Lagers im Parlament verloren. Bisher hätten 24 Politiker der regierenden Partei der Regionen die Fraktion verlassen, teilte Vize-Parlamentschef Ruslan Koschulinski mit. Die Fraktion hatte in ihrer vollen Stärke zuletzt 205 von 450 Sitzen in der Obersten Rada.

Abkommen unterzeichnet: Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch und Vertreter der Opposition haben in Kiew ein Abkommen zum Ende der Gewalt unterschrieben. Innerhalb von 48 Stunden sollen demnach vorläufig die Verfassung von 2004 wieder in Kraft treten, eine Übergangsregierung gebildet und eine Verfassungsreform begonnen werden. Spätestens im Dezember 2014 soll der Präsident neu gewählt werden. Die Demonstranten werden außerdem verpflichtet, ihre Waffen zurück zu geben. Die Gewalt in der Ukraine soll unter gemeinsamer Aufsicht von Regierung, Opposition und dem Europarat untersucht werden. Beide Seiten erklären sich bereit, in Zukunft auf Gewalt zu verzichten. (Das Abkommen finden Sie auf der Webseite des Auswärtigen Amtes.)

Reaktionen auf den Friedensplan: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat das Abkommen zwischen Regierung und Opposition in der Ukraine vorsichtig optimistisch bewertet. "Das war vielleicht die letzte Chance, einen Ausweg aus der Spirale der Gewalt zu finden. Nicht alle Probleme sind gelöst", sagte Steinmeier. US-Präsident Barack Obama und sein russischer Kollege Wladimir Putin drangen auf eine schnelle Anwendung des Abkommens und forderten laut einem US-Regierungsvertreter alle Konfliktparteien auf, auf weitere Gewalt zu verzichten. Das Abkommen, das Janukowitsch und die Anführer der Opposition am Freitag unterzeichnet haben, sei ein "wahrhaftige Gelegenheit" für eine friedliche Lösung, aber auch "sehr, sehr zerbrechlich", zitierte der US-Vertreter aus dem Telefongespräch zwischen Putin und Obama. Der russische Vermittler Wladimir Lukin hatte zuvor den Kompromiss, der auch von zwei EU-Außenministern unterzeichnet wurde, nicht unterschrieben. Russland hatte die EU zur Verurteilung von "radikalen Kräften" aufgefordert, die für den Gewaltausbruch und die Todesopfer in der benachbarten Ukraine verantwortlich seien. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton habe am Freitag mit Außenminister Sergej Lawrow über das Friedensabkommen und die Chancen für dessen Umsetzung angesichts der anhaltenden Aktivität "extremistischer Kräfte" gesprochen, hieß es in einer Erklärung des russischen Ministeriums. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy begrüßte die Vereinbarung. Sie sei "ein notwendiger Kompromiss, um den unerlässlichen politischen Dialog zu beginnen, der den einzigen demokratischen und friedlichen Weg aus der Krise eröffnet, die schon zu viel Leid und Blutvergießen auf allen Seiten gefordert hat".

Dutzende Tote bei blutigen Kämpfen: Bei den heftigen Straßenkämpfen von Regierungsgegnern und Sicherheitskräften in der Ukraine sind seit Dienstag mindestens 77 Menschen ums Leben gekommen. Das teilt das Gesundheitsministerium mit. Hunderte Menschen seien zudem bei den Auseinandersetzungen um den Maidan verletzt worden. Mediziner der Protestbewegung sprechen CNN zufolge sogar von mehr als 100 Toten allein am Donnerstag. Tweets aus der Hauptstadt zeigen die Brutalität der Kämpfe. In der Nacht und am Morgen war die Lage vergleichsweise ruhig, wie auch SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit vom Maidan berichtet.

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