Staatsanwalt über KZ-Aufseher:"Beitrag zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie"

Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm in seiner Behörde in Ludwigsburg

Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm in seiner Behörde in Ludwigsburg.

(Foto: AFP)

Oberstaatsanwalt Schrimm erklärt im Interview, wieso es demnächst vermehrt zu Anklagen gegen ehemalige KZ-Aufseher kommen könnte.

Von Martin Anetzberger

Am vergangenen Montag wurde der frühere KZ-Aufseher Hans Lipschis auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Stuttgart festgenommen. Der 93-Jährige stehe unter dem dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum Mord. Außerdem bestehe Fluchtgefahr. Er soll im Konzentrationslager Auschwitz in der Zeit von 1941 bis 1945 in die Ermordung von Häftlingen verwickelt gewesen sein. Der gebürtige Litauer emigrierte 1956 in die USA und musste 1982 nach Deutschland zurückkehren, weil er seine SS-Vergangenheit verschwiegen hatte. Er steht auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums der meistgesuchten NS-Verbrecher auf dem vierten Rang.

Dem Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, ist der Fall Lipschis bekannt. Er ist eine von 50 Personen, gegen die Schrimms Zentrale Stelle Vorermittlungen eingeleitet hat. Sie übergab den Fall an die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die mit der Verhaftung Lipschis' einen ersten Schritt zur Anklage gemacht hat. Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt Schrimm, in welchem Zusammenhang der Fall mit dem Demjanjuk-Prozess steht und warum es in nächster Zeit vermehrt zu Anklagen gegen ehemalige KZ-Aufseher kommen könnte.

SZ.de: Herr Schrimm, Hans Lipschis kam schon vor 30 Jahren zurück nach Deutschland. Warum wurde erst jetzt gegen ihn ermittelt?

Kurt Schrimm: Das stimmt so nicht. Die Ermittlungen gegen Lipschis wurden unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland in den achtziger Jahren aufgenommen. Und zwar mit relativ großem Aufwand: Der damalige Behördenleiter flog in die Vereinigten Staaten und schaute sich dort mit den Verantwortlichen der amerikanischen Behörden das Material zu Lipschis an. Er kam aber zu dem Ergebnis, dass es für eine Anklage beziehungsweise für einen Tatnachweis nicht reiche.

Wieso nicht?

Das lag an der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu Auschwitz. Der verlangte damals den Nachweis einer individuellen Tätigkeit, die direkt oder wenigstens indirekt zum Tode eines oder mehrerer Häftlinge führte. Das kann Lipschis damals wie heute nicht nachgewiesen werden.

Warum soll Lipschis nun doch angeklagt werden?

Mit dem Fall des KZ-Aufsehers John Demjanjuk änderte sich, zumindest vorläufig, die Rechtsprechung. In diesem Fall wurde die von unserer Stelle entwickelte Auffassung vom Landgericht München bestätigt, dass es für einen Tatnachweis ausreichen muss, dass der Verdächtige zum Tatzeitpunkt im Lager anwesend war und um das Geschehen wusste. Dieser Auffassung nach leistete er dadurch einen Beitrag zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie.

Sehen Sie es nicht als problematisch an, jemanden zum Beispiel wegen der Beihilfe zum Mord anzuklagen, wenn direkte Beweismittel wie Zeugenaussagen, Fotos, oder Filmdokumente fehlen?

Nein. Diese Rechtsauffassung wurde bei mir im Haus entwickelt und hat mit meinem Segen dieses Haus verlassen - zur Staatsanwaltschaft in München und von dort zum Landgericht. Das ist von mir gedeckt und gebilligt.

Und hält das auch allen Instanzen stand?

Wir wissen nicht, ob sich die höchstrichterliche Rechtsprechung ändern wird. Es kann sein, dass der BGH bei der Revision des Falles Demjanjuk gesagt hätte, da liegt ihr falsch. Wir haben aber als Staatsanwaltschaft keine andere Möglichkeit, als von unten anzufangen. Wir müssen über das Landgericht gehen, um eine Entscheidung des BGH herbeizuführen. Ob der BGH uns zurückpfeift und unsere Arbeit damit zumindest teilweise obsolet macht, das wissen wir noch nicht. Aber dieses Risiko gehen wir ein.

Wie tief muss man denn in die Morde verstrickt gewesen sein, um heute bestraft werden zu können?

Das größte Hindernis war bisher oft der fehlende Nachweis eines individuellen Tatbeitrags zur Tötung von Häftlingen. Beispielsweise derjenige, der nur auf dem Wachturm stand und die Menschen daran hinderte, zu fliehen, der ist an der Tötung selbst nicht beteiligt. Sondern dafür bedurfte es einer anderen Tätigkeit, zum Beispiel das Führen von der Bahnhofsrampe in die Gaskammer. Oder ganz krass: das Einfüllen des Giftes in die Gaskammer.

"Der Nachfolgestaat kann nicht sagen, das interessiert uns nicht mehr"

Gegen wie viele Personen ermitteln Sie derzeit außerdem noch?

Das sind zunächst einmal diese 50 Namen auf der von uns erarbeiteten Liste zu Auschwitz. Wir haben noch einige weitere offene Vorermittlungsverfahren, und dann können täglich noch welche dazukommen. Wir ermitteln ja nicht nur in Sachen Auschwitz, sondern wir dehnen unsere Ermittlungen auch auf die übrigen Vernichtungslager aus. Da wird noch mal überprüft werden, ob in der Vergangenheit Fälle abgeschlossen wurden, die nach heutiger Auffassung nicht abgeschlossen hätten werden dürfen.

Wurde in diesen Fällen ähnlich wie im Fall Lipschis schon einmal ermittelt, oder sind da auch neue Fälle dabei?

Da sind sicherlich auch neue dabei. Wobei ich dazu jetzt nichts Näheres sagen kann. Selbstverständlich müssen wir auch überprüfen, ob gegen manche schon früher Gerichtsverfahren durchgeführt wurden, denn dann dürfen wir sie kein zweites Mal anklagen. Jeder darf für dieselbe Straftat nur einmal vor Gericht gestellt werden. Die Überprüfung ist aber noch im Anfangsstadium.

Wie sind Sie auf die Personen gekommen?

Da bitte ich um Verständnis dafür, dass ich das noch nicht sage. Wir ermitteln weiter Fälle aus anderen Vernichtungslagern, da möchte ich unsere Quellen derzeit nicht bekannt geben.

Was entgegnen Sie einem Bürger, der sie fragt: Warum klagen Sie jemanden an, der schon mehr als 90 Jahre alt ist?

Das ist ganz einfach. Dann würde ich sagen: Weil es meine Pflicht ist. Der Gesetzgeber hat sich in den siebziger Jahren dazu entschlossen, die Verjährung von Mord aufzuheben. Außerdem steht in Paragraf 152 der Strafprozessordnung, dass der Staatsanwalt ermitteln muss, wenn er von einem Verbrechen erfährt, das noch strafbar ist. Nach dem Sinn darf der Staatsanwalt nicht fragen.

Wie würden Sie das persönlich einschätzen?

Ich bin seit 1982 mit der Materie befasst und war jahrelang hin- und hergerissen. Das gebe ich offen zu. Aber der Kontakt mit sehr vielen Opfern und Angehörigen sagt mir ganz einfach, es wäre nicht vertretbar, den Überlebenden zu sagen, wir machen jetzt einfach Schluss. Es ging in der NS-Zeit um ein staatlich organisiertes und befohlenes Morden. Der Nachfolgestaat dieses Befehlsgebers von damals kann nicht einfach sagen: Das interessiert uns nicht mehr.

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