Völkermord in Bosnien:Mahnung der Toten

Nach den Massakern in Bosnien gewann die Idee von humanitären Interventionen und einer Weltstrafjustiz an Boden. Heute, 20 Jahre später, sieht die Praxis düster aus.

Kommentar von Stefan Ulrich

Es gibt diese Orte, die auf der Landkarte ziemlich klein wirken, in der Geografie des Gedenkens aber Weltstädte sind. Auschwitz wäre da, allen voran, zu nennen; Waterloo; oder, seit 20 Jahren, Srebrenica. Früher war das Städtchen in den bosnischen Bergen außerhalb Jugoslawiens kaum bekannt. Dann begannen im Juli 1995 serbische Soldaten unter den Augen einer Blauhelmtruppe, Tausende bosnische Männer und Jungen zu ermorden. Seitdem steht Srebrenica für das Ende einer Illusion - aber auch für einen Anfang.

Zu Beginn der Neunzigerjahre, als die Ost-West-Konfrontation überwunden war, sahen Optimisten ein Zeitalter ewigen Friedens anbrechen, oder zumindest eine Ära globaler Vernunft. Die Jugoslawien-Kriege, die kurz darauf ausbrachen, versetzten dieser Hoffnung einen Schlag. Der Genozid 1994 in Ruanda führte der Welt vor Augen, wie nah das Grauen weiter war. Und dann Srebrenica. Wieder ein Völkermord. Diesmal mitten in Europa. Der ewige Frieden war doch nur ein ferner Traum.

Immerhin, die Weltgemeinschaft reagierte. 1993 und 1994 erschuf der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Jugoslawien- und Ruanda-Tribunal. Der Gedanke, dass es Verbrechen gibt, die so schwer sind, dass sie von der ganzen Menschheit geahndet werden müssen, gewann an Kraft. Juristen und Diplomaten setzten sich für ein allgemeines Welttribunal ein. Zugleich diskutierte die Völkergemeinschaft, wann sie militärisch eingreifen sollte, um Massenverbrechen zu stoppen.

Die Frage stellt sich auch künftig: Wann muss die Welt eingreifen?

Srebrenica trieb diese Debatte voran. Dies führte dazu, dass der Schutz der Menschenrechte mehr Gewicht gegenüber der Souveränität der Staaten erlangte. 1998 stimmten 120 Staaten für die Gründung des Haager Weltstrafgerichts. Ein Jahr später griff die Nato in den Kosovo-Krieg ein, um die Kosovaren gegen die Truppen Serbiens zu schützen. Das verstieß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, da der Sicherheitsrat den Einsatz nicht erlaubt hatte. Die Nato-Staaten versuchten daher, ihn als "humanitäre Intervention" zu rechtfertigen.

Später entwickelten Völkerrechtler das Prinzip der Schutzverantwortung. Demnach haben die Staaten die Pflicht, ihre Bürger zu schützen. Versagt ein Staat dabei, wird er gar selbst zum Massenmörder, darf, ja muss die Weltgemeinschaft eingreifen. Bei einem UN-Gipfel bekannten sich 2005 fast alle Staaten zu dieser Idee.

Im Libyen-Krieg zeigte sie Wirkung. 2011 erlaubte der UN-Sicherheitsrat Militärschläge gegen das Gaddafi-Regime, um Zivilisten zu schützen. Eine Koalition um die USA und Frankreich kämpfte dann bis zum Sturz Gaddafis weiter. Das verärgerte China und Russland, die sich ausgetrickst fühlten. Die Folge: Im Syrien-Konflikt lehnten sie im Sicherheitsrat Militärschläge gegen das Assad-Regime ab. Aber auch der Westen zweifelt aufgrund der chaotischen Entwicklung in Libyen mehr denn je am Sinn von Militärinterventionen.

Der Konsens, der nach Srebrenica entstand, bröckelt

Die internationale Strafjustiz, die seit Srebrenica solche Fortschritte gemacht hat und mehrere Täter dieses Genozids aburteilte, verspürt heute starken Gegenwind. Das zeigt der Fall des sudanesischen Diktators Omar al-Baschir. Das Haager Weltgericht sucht ihn wegen Völkermordes. Doch als Baschir kürzlich nach Südafrika reiste, weigerte sich die dortige Regierung, den Diktator auszuliefern. Der Sicherheitsrat, der den Fall Sudan an das Gericht überwiesen hatte, schaut der Machtlosigkeit des Tribunals tatenlos zu. So wird die internationale Strafjustiz diskreditiert.

Der Konsens, der nach Srebrenica entstand, bröckelt. Gerade lehnte es Russland im Sicherheitsrat ab, den Völkermord auch Völkermord zu nennen. Dennoch wird die Mahnung der Toten weiterwirken. Sie zwingt die Welt bei jedem neuen Menschheitsverbrechen, ihr Gewissen zu prüfen, ob sie nicht doch einschreiten muss.

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