Frans Timmermans liebt Anekdoten und Sprichwörter. Der Niederländer spricht ein halbes Dutzend Fremdsprachen und in jeder kann er Geschichten erzählen. Beim Wahlkongress der europäischen Sozialdemokraten in Lissabon, wo er per Akklamation von den etwa 1000 Delegierten zum Spitzenkandidaten für die Europawahl gekürt wurde, erzählt er zu Beginn seiner 40-minütigen Rede auf Englisch von seinem Großvater, der nicht nur Bergmann und stolzes Gewerkschaftsmitglied war.
"Er war Sozialist in einem Teil der Niederlande, wo das nicht populär war", erzählt der ehemalige niederländische Außenminister. Eines habe sein Großvater immer gesagt: "Als Sozialisten dürfen wir nie mit dem Erreichten zufrieden sein, sondern müssen stets danach streben, die Welt besser zu machen für unsere Kinder und Enkel." In seiner Rede macht der Erste Vizepräsident der EU-Kommission klar, wie er sich die Europäische Union vorstellt: Diese soll nach außen geschlossen auftreten, die Rechte ihrer Bürger verteidigen und es soll vor allem gerechter zugehen.
Viel Applaus erhält er für seine Forderung, die Löhne europaweit anzugleichen: "Warum sollen Arbeiter in einer Autofabrik schlechter bezahlt werden, nur weil sie in einem anderen Land steht? Die Arbeit wird dort doch genauso gut gemacht." Dies sei den Bürgern ebenso wenig zu vermitteln wie die Tatsache, dass große Unternehmen nur geringe Steuern zahlen. Wie schon im Interview mit der Süddeutschen Zeitung skizziert, fordert Timmermans eine Digitalsteuer für die großen Tech-Firmen ("nicht nur für US-amerikanische, auch für die aus Europa") und er sagt der wachsenden Ungleichheit den Kampf an: "Wenn jedes vierte Kind in Europa von Armut bedroht ist, ist es höchst Zeit, dass auch die Superreichen die Steuern zahlen, die sie schulden." Der gegenwärtige Zustand sei "nicht akzeptabel".
Nach seiner Kür ist Timmermans damit offiziell der Gegenspieler zum CSU-Politiker Manfred Weber, den die Europäische Volkspartei (EVP) im November zu ihrem Spitzenkandidaten für die Europawahl gewählt haben. Den Christdemokraten wirft Timmermans vor, für Stillstand zu stehen. Der 57-Jährige geht offensiv damit um, dass viele Delegierte von einer Spitzenkandidatin geträumt hatten: "Ich bin keine Frau, das kann ich nicht so schnell ändern. Alles was ich anbieten kann, ist ein männlicher Feminist." Er nennt es skandalös, dass Frauen in Europa noch immer schlechter bezahlt würden als Männer und im Durchschnitt 40 Prozent weniger Rente erhielten.
In diesem Kontext zitiert er die US-amerikanische Feministin Gloria Steinem, die einst forderte: "Alles, was wir wollen, ist Gleichheit." Die EU sei auch gefordert, sich für eine bessere Work-Life-Balance einzusetzen, von der auch Männer und Familien allgemein profitieren würden. Mit diesem Plädoyer für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit kam Timmermans in Lissabon ebenso gut an wie mit seiner Forderung nach einer geschlossenen Position gegenüber den Präsidenten Russlands und der USA. Es gebe genügend Belege, dass Wladimir Putin "unsere Lebensweise bedroht" und Donald Trump sei "der erste Präsident, der glaubt, dass es im amerikanischen Interesse ist, wenn Europa gespalten ist."
Sozialdemokraten "wollen raus und für Europa kämpfen"
Vor Timmermans hatten alle Redner dafür geworben, an die eigenen Überzeugungen und Chancen zu glauben. Dies ist auch dringend geboten, denn europaweit kämpfen die Sozialdemokraten gegen schlechte Umfragewerte: In Deutschland, wo die SPD bei der Europawahl vor fünf Jahren noch 27 Prozent der Stimmen erhielt, kommt die SPD nur noch auf fünfzehn Prozent. In Timmermans' Heimat kam die "Partei von der Arbeit" zuletzt nur auf 5,7 Prozent. Aktuellen Schätzungen zufolge wird die EVP bei der Europawahl erneut stärkste Kraft werden, während die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten im Europaparlament von 187 auf etwa 142 sinken dürfte.
Trotz dieser düsteren Aussichten gibt sich Udo Bullmann kämpferisch: "Ich bin überhaupt nicht pessimistisch. Unsere Leute sind hochmotiviert, sie wollen raus und für Europa kämpfen, das gilt auch für die gesamte SPD." Der 62-Jährige führt die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament an und bildet mit Noch-Justizministerin Katharina Barley das Spitzenduo der SPD. Timmermans lobt er als "geradlinigen Sozialdemokrat, der sich nicht scheut, überall seine Meinung klar zu sagen und als EU-Kommissar leidenschaftlich für Freiheit und Demokratie kämpft".