Spitzenamt nach Europawahl:Juncker als Präsident? Der Preis wäre hoch

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Er ist der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion. Muss Juncker deshalb EU-Kommissionspräsident werden? Nicht unbedingt, sagt Kanzlerin Merkel. Die Machtverhältnisse geben ihr recht. Setzt sich Juncker trotzdem durch, wäre das ein Sieg für das nationenübergreifende Europa. Aber mit welchen Folgen?

Eine Analyse von Stefan Kornelius

Aus dem Sozialkundeunterricht kennt man die bunten Diagramme, mit deren Hilfe die Hierarchien in einem Staatswesen erklärt werden sollen. Kreise, Dreiecke, Quadrate sind durch Pfeile verbunden, manche stehen oben, andere unten. Der Präsident wird gewählt von A - gibt Weisung an B; das Parlament wählt X und entscheidet über Y. Diese Diagramme sind Abbilder der Machtverhältnisse in einem Staat. Sie sind der Schaltkreis der Demokratie.

Die Europäische Union verfügt über einen Schaltplan, der vielen kompliziert erscheinen mag. Tatsächlich kann man dem Beziehungsgeflecht zwischen Parlament, dem Europäischen Rat (der Versammlung der Staats- und Regierungschefs), den Ministerräten, der Kommission und auch dem Europäischen Gerichtshof vieles abgewinnen. Er spiegelt in aller Ehrlichkeit wider, wie viel Nationalstaat in Europa steckt, wie viel Macht dem Parlament gebührt, wer zahlt und wer aufpasst. Dieses Beziehungsgeflecht hat sich über viele Jahrzehnte immer weiter entwickelt. Nun ist wieder einmal der Moment gekommen, wo ein veritabler Machtkampf ausbricht um die richtige Gewichtung der Verhältnisse.

Eingespeist durch die Hintertür

Daran ist nichts Verwerfliches. Der Konflikt war absehbar, man konnte fast die Uhr danach stellen: Dienstag nach der Europawahl, Abendessen des Rats. Es geht um die Frage, ob der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion im Parlament tatsächlich auch Zugriff auf das Spitzenamt - die Präsidentschaft der Kommission - hat. Das Parlament sagt ja, die Regierungschefs, alle demokratisch in ihren Nationen gewählt und damit Sachwalter ihrer nationalen Interessen, sagen: nein, nicht unbedingt.

Porträt in Bildern
:Martin Schulz auf dem Weg nach oben

Seine Karriere liest sich wie die europäische Variante des amerikanischen Traums: Vom Arbeitslosen zum Spitzenpolitiker. Nun fehlt ihm nur noch das Kanzleramt.

Dieser Konflikt war absehbar, weil die Spitzenkandidaten quasi durch die Hintertür in den europäischen Stromkreislauf eingespeist wurden. Die EU hat das vor allem dem agilen Parlamentspräsidenten Martin Schulz zu verdanken, der seiner Institution mehr Macht verleihen wollte (und nebenbei als Spitzenkandidat auch davon profitieren möchte). Die Sozialisten trugen die Idee schnell mit, die anderen Parteienfamilien folgten widerwillig. Sie zögerte deswegen, weil die Parteienfürsten in Europa auch nationale Wurzeln haben. Und von nationalen Wurzeln werden genährt: nationale Amtsträger, Parlamentsabgeordnete, Regierungschefs, Parteivorsitzende. Martin Schulz hat also in Sachen Machtgefüge an einem ganz großen Rad gedreht.

Merkel hält sich an die Verträge

Die Idee des Spitzenkandidaten funktionierte besonders in Deutschland hervorragend. Kaum irgendwo sonst in den EU-Staaten wurde die Kandidatur in Verbindung mit dem Amtsversprechen so ernst genommen. Das lag an der Person Schulz, aber auch an der Tatsache, dass die Deutschen mehr als viele andere Nationen in Europa bereit sind zum Machttransfer nach Straßburg und Brüssel. Aber sind sie es wirklich?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nun klargemacht, dass Jean-Claude Juncker zwar der Spitzenkandidat der Konservativen für den Wahlkampf war. Und dass er die Wahl gewonnen hat. Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass er auch der Spitzenkandidat für das Präsidentenamt ist. Denn diesen Kandidaten schlagen immer noch die Regierungschefs vor, nicht das Parlament und die Parteien.

EU-Kommissionspräsident gesucht
:Merkel ermahnt das Europaparlament

Wird Juncker Kommissionspräsident? Das EU-Parlament hat sich schon festgelegt - zum Ärger der Staats- und Regierungschefs. Kanzlerin Merkel richtet deutliche Worte an die europäischen Volksvertreter. Und alle Seiten argumentieren mit den Verträgen. Der Kampf um das Sagen in der EU ist bereits in vollem Gange.

Von Cerstin Gammelin

Merkel hält sich mit dieser Aussage klar an die Verträge - und orientiert sich auch an den Machtverhältnissen der Institutionen. Bei der Besetzung des Spitzenpostens wird nicht nur über einen Kandidaten und dessen Befähigung entschieden, sondern es geht um das Machtdiagramm der EU insgesamt.

Die Verträge sind in dieser Sache eindeutig: Der Rat schlägt den Kommissionspräsidenten vor, das Parlament stimmt darüber ab. Dahinter verbirgt sich das Verständnis, dass die Kommission ein Instrument der Mitgliedsstaaten ist, nicht des Parlaments. Die zentralen Mechanismen der EU sind dieser Logik untergeordnet. Die Kommission verwaltet einen Haushalt, den die Nationalstaaten aushandeln - das Parlament genehmigt zwar die Ausgaben, aber es verantwortet keine Steuergesetzgebung, aus der sich wiederum ein Haushalt speist. Anders gewendet: So lange die Abgeordneten nicht für die Ausgaben geradestehen müssen, fehlt ihnen ein zentrales Wesensmerkmal eines voll verantwortlichen Parlaments.

Der kommende Kommissionspräsident? Jean-Claude Juncker aus Luxemburg (Foto: REUTERS)

Zweites Defizit: Das Europäische Parlament kann nur sehr eingeschränkt Richtlinien und Verordnungen initiieren. Ein volles Vorschlagsrecht für Gesetze hat es nicht. Es hat außerdem sehr eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten in der Handelspolitik oder in der Außenpolitik. All das kann man beklagen, aber die Evolution der europäischen Demokratie ist bisher nun mal nicht weitergekommen.

Machtfrage spaltet nicht nur die Geister

Deswegen kommt der Idee des Spitzenkandidaten eine so grundsätzliche Bedeutung zu. Würden die Regierungschefs auf ihr Vorschlagsrecht verzichten und sich dem vom Parlament ausgewählten Kandidaten beugen, verzichteten sie auf ein zentrales Machtinstrument: der Auswahl des europäischen Spitzenpersonals. Am Ende geht es um die Mutter aller Grundsatzfragen: Ist dies eine EU der Nationalstaaten oder funktioniert bereits die staatenübergreifende Demokratie, die das Gewicht der Nationen schrumpfen lässt? Wer die Wahlergebnisse besonders in Frankreich und Großbritannien - nicht gerade die unwichtigsten EU-Mitglieder - und die Zahl der Europafeinde auf dem Kontinent studiert, der muss eingestehen: Die Machtfrage spaltet nicht nur die Geister, sie kann Europa zerbrechen lassen.

Würde Jean-Claude Juncker also als Kommissionspräsident akzeptiert, wäre das ein gewaltiger Sieg für das integrierte, das nationenübergreifende Europa. Der Preis dafür könnte allerdings hoch sein. Nigel Farage treibt es in Großbritannien bereits das Grinsen ins Gesicht.

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