Süddeutsche Zeitung

Spitzenämter nach Europawahl:Von wegen Hinterzimmer

Aller Schmähkritik zum Trotz: Noch nie wurde um die Besetzung der wichtigsten EU-Posten derart ehrlich und offen gerungen. Die EU-Gipfel sind nicht perfekt, aber etwas Besseres ist nicht machbar. Europa ist demokratischer als seine Kritiker behaupten.

Ein Kommentar von Cerstin Gammelin, Brüssel

Zeit für ein bisschen Pathos: An diesem Dienstag haben sich die Europäischen Institutionen aufgemacht, in einem ganz neuen Verfahren das Spitzenpersonal und die Strategie der EU für die nächsten fünf Jahre zu bestimmen. Ein historischer Moment - der ganz schnell erledigt sein oder Monate dauern kann. Es wird ganz sicher Streit geben. Aber gerade dieser Streit zeigt: Niemals zuvor in der Geschichte der Institutionen waren Entscheidungsprozesse so demokratisch und nachvollziehbar wie dieses Mal.

Dennoch reißt die Kritik nicht ab. Das Verfahren sei undurchsichtig und undemokratisch, heißt es. Es werde gekungelt und geschoben. Die Gegenkritik: Es war nie einfacher, ohne Rücksicht auf Fakten auf Europa zu schimpfen. Alles, was nicht passt, wird auf Brüssel geschoben. Jede Sachkenntnis wird mit krummen Gurken, dem Verweis auf Hinterzimmer oder habgierige Bürokraten weggebügelt.

Dabei kann eine Regierung sogar überraschend starke Mehrheiten gewinnen, wenn sie sich die Mühe macht, Europa zu erklären - siehe Italien. Und wer sich selbst die Mühe macht, ohne Vorurteile genauer hinzuschauen, der findet auch andere Wahrheiten. Beispielsweise darüber, wie demokratisch Europas Spitzenpersonal tatsächlich bestimmt wird. An diesem Dienstag hat es dazu die erste Überraschung gegeben.

Die Suche nach Spitzenleuten in der EU ist durchaus transparent

Schneller und einfacher als noch am Wahlabend gedacht, haben sich die Vorsitzenden der Fraktionen des noch amtierenden Parlaments darauf geeinigt, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volksparteien zum Sieger der Wahl zu erklären - und ihn zu beauftragen, eine Mehrheit unter den frisch gewählten Volksvertretern zu suchen. Die soll ihn zum Präsidenten der nächsten Europäischen Kommission wählen. Und die Fraktionen fassten einen zweiten Beschluss: Volksparteien und Sozialisten werden eine große Koalition im Parlament bilden, um im Zweifel wichtige Gesetze sicher gegen Extremisten und Splitterparteien durchzubringen. Es war plötzlich ein bisschen wie im Bundestag.

Sicher steht die Idee der europaweit kandidierenden Spitzenkandidaten am Anfang. Sie lässt sich verbessern. Verbessern ließe sich der Termin der Konstituierung des neuen Parlaments. Nun kommen die neuen Abgeordneten erst im Juli zusammen, obwohl Absprachen schon jetzt getroffen wurden. Und wahr ist auch, die europäische Volksvertretung ist nicht so mächtig wie der Bundestag. Aber sie ist die einzige direkt gewählte Institution der Europäischen Union. Demokratischer geht es nicht. Im Moment.

Dasselbe gilt auch für die angeblichen Kungel-Absprachen um Spitzenjobs in Europa. Bitte sehr, wer sitzt denn im grauen Ratsgebäude am Tisch und diskutiert über die Posten? Es sind 28 demokratisch gewählte Präsidenten, Premierminister und Kanzler. Hinter jedem Regierungschef stehen nationale Wähler und Interessen. Wer Gipfel-Protokolle zu lesen bekommt, kann nachvollziehen, wie mühsam europäische Kompromisse zu finden sind, die 28 Nationen mittragen. Die Sisyphusarbeit um einzelne Worte ist nervenzehrend.

An diesem Dienstag haben sie wieder zusammengehockt, um aus nationalen Interessen eine gemeinsame Strategie zu destillieren, die Europa durch weitere fünf Jahre bringt, und zwar so, dass die Gemeinschaft beisammen bleibt. Es ging darum, wie der Brite Cameron das Gesicht wahren und wie der Wille der Wähler respektiert werden kann - sodass nicht alle Vermittlungsarbeit an Berlin hängen bleibt.

Gipfel sind Foren eines Interessenausgleiches von demokratisch gewählten nationalen Regierungen. Sie sind nicht perfekt, aber das Beste, was machbar ist. Kungelklubs und Hinterzimmer - das gehört in die Abteilung Schmähkritik.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2014/fued/mati
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