Spesenskandal in Großbritannien:Finale ohne Ende

Minister mucken auf, Hinterbänkler murren: Gordon Browns Autorität verrinnt schneller als Wasser aus einem Sieb - die Demokratie hat längst Schaden genommen.

Wolfgang Koydl, London

Am besten traf es wohl jener Hinterbänkler, der sich als Erster während der wöchentlichen Fragestunde an den Premierminister im britischen Unterhaus erhob. Was er denn von dem "jämmerlichen Anblick" halte, wollte der ehrenwerte Gentleman von Gordon Brown wissen, "dass sich sein Kabinett augenscheinlich ganz von alleine umbildet" - bevor der Regierungschef die Chance habe, selbst ein geplantes Revirement vorzunehmen.

Gordon Brown, Getty

Premier auf Abruf: Gordon Brown verlässt Number 10 Downing Street.

(Foto: Foto: Getty)

Der Hieb saß, denn nur eine Stunde vor Beginn der Parlamentsdebatte an diesem Mittwoch war dem britischen Premierminister erneut ein Kabinettsmitglied abhandengekommen. Hazel Blears, die für Gemeinden und Regionen im Kabinett zuständig war, hatte Brown mitgeteilt, dass sie sich künftig wieder der Arbeit an der Parteibasis widmen wolle. Besonders bösartig war der Zeitpunkt, den die Ministerin für den Schritt wählte: nur einen Tag, bevor an diesem Donnerstag in England Lokal- und Europawahlen stattfinden.

Beginn einer konzertierten Aktion

Blears war das vierte Kabinettsmitglied, das binnen 24 Stunden aufgab. Am Vortag hatten Innenministerin Jacqui Smith, die für Kinderfragen zuständige Staatssekretärin Beverley Hughes und der Kabinettsminister Tom Watson ihren Rückzug auf die Hinterbänke des Parlaments verkündet. Darüber hinaus gab Ex-Gesundheitsministerin Patricia Hewitt ihren Rückzug aus der aktiven Politik bekannt, und mittlerweile ranken sich Rücktrittsspekulationen um Europa-Staatssekretärin Caroline Flint.

Nur teilweise freilich standen diese Rücktrittsentscheidungen im Zusammenhang mit dem Spesenskandal, der Großbritannien seit Wochen erschüttert. Westminster wertete sie viel eher als Beginn einer konzertierten Aktion, mit der Gordon Brown zum Rücktritt gezwungen werden soll. Denn was als Krise des Parlaments begann, deren Abgeordnete sich teils phantasievoll, teils schamlos, teils illegal per Spesenabrechnungen auf Steuerzahlerkosten bereichert hatten, hat sich mittlerweile zur finalen Krise für Brown entwickelt. Totgesagte mögen zwar dem Sprichwort nach länger leben; die Regierung Brown freilich erinnert in ihrer Handlungsunfähigkeit an einen Zombie.

Unübersehbar ist, dass Browns Autorität schneller verrinnt als Wasser aus einem Sieb. Gleichsam stündlich mehren sich die Indizien dafür: Blears etwa hielt es noch nicht einmal für nötig, in ihrer Rücktrittserklärung den Premierminister auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Stattdessen ließ sie streuen, dass sie im Vier-Augen-Gespräch mit Brown ihrem Ärger darüber freien Lauf gelassen habe, wie voreingenommen sich der Ministerpräsident in der Spesenaffäre verhalten habe.

Die Stunde der Wahrheit

Außenminister David Miliband - seit seinem gescheiterten Putschversuch gegen Brown im letzten Herbst nicht gut gelitten in der Downing Street - verkündete schon mal vorsorglich, dass er ganz gerne in seinem Amt verbleiben wolle und von der Kabinettsumbildung nicht betroffen sein werde. Der Premierminister, dessen Vorrecht die Besetzung der Kabinettsposten eigentlich ist, wird es mit Verwunderung vernommen haben.

Aber nicht nur Minister mucken offen gegen ihn auf, auch die Hinterbänkler in seiner Fraktion murren immer vernehmlicher. Wie die Presse berichtet, kursiert im Parlament ein Brief unter dem Rubrum "Gordon must go", mit dem Unterschriften für einen Misstrauensantrag gegen den Premier gesammelt werden. Auch mehrere Labour-Abgeordnete haben unterschrieben. Widerstand gibt es zudem gegen Pläne Browns, Ed Balls, seinen wohl treuesten Vasallen, als Nachfolger von Alistair Darling zum neuen Schatzkanzler zu machen. Dass Darlings Tage gezählt sind, ist praktisch sicher.

Balls genießt Vertrauen - allerdings im Wesentlichen nur das von Brown. In der Regierung und in der Fraktion hingegen ist der als intrigant und als krankhaft ehrgeizig verschriene derzeitige Schulminister derart verhasst, dass seine Beförderung einen Massenaufstand in der Fraktion und im Kabinett auslösen könnte. Doch wenn Brown vor der Ernennung zurückschreckt, dann würde er damit lediglich enthüllen, dass er zu schwach ist, gegen den Widerstand von Hinterbänklern den wichtigsten Kabinettsposten mit einem Mann seiner Wahl zu besetzen.

Die Briten, die zunächst hellauf empört waren über die schamlose Bereicherungsmentalität zahlreicher Abgeordneter, beschleicht inzwischen Sorge, dass diese Krise ungehindert weiter wuchert wie ein Krebsgeschwür und lebenswichtige Organe und Institutionen des Staates, der Gesellschaft und der Demokratie ergreifen kann. Das politische Erdbeben hätte zudem zu keinem schlechteren Zeitpunkt einsetzen können: Denn diese größten politischen Verwerfungen seit Jahrzehnten gesellen sich zu einer der schlimmsten wirtschaftlichen Krise des Jahrhunderts.

Die Stunde der Wahrheit

Es gibt daher heute kaum mehr einen Wähler zwischen Brighton und Aberdeen, der sich nicht Neuwahlen wünschte - als einzige Chance für einen Neuanfang mit einer neuen Politik, einer neuen Moral und nicht zuletzt neuen Gesichtern. Brown freilich macht keine Anstalten, diesem Wunsch nachzukommen. Seine engen Freunde erinnern daran, dass er sein Leben lang das Amt des Premiers angestrebt habe, dass er zehn Jahre lang neben Tony Blair die zweite Geige habe spielen müssen. So ein Mann, argumentieren sie, werde sich so lange wie nur irgend möglich an die Macht klammern.

Die Stunde der Wahrheit freilich könnte schneller als erwartet für Brown schlagen - wenn nämlich die Ergebnisse der Lokalwahlen und der Europawahlen verkündet werden. Wenn Labour wirklich auf den dritten oder gar vierten Platz abstürzt, wäre dies der Anfang vom Ende für Labour als ernstzunehmende politische Kraft. Schon jetzt, so höhnte Liberalenführer Clegg, habe der Wähler nur die Wahl zwischen Konservativen und Liberaldemokraten; Labour sei nicht mehr Teil dieser Gleichung.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: