Süddeutsche Zeitung

SPD:Brüder, zurück zur Sonne

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Mit Olaf Scholz als Kandidat ist aus einer Partei, die sich schon mit ihrem Bedeutungsverlust abzufinden schien, eine politische Kraft geworden, die wieder regieren will - als Kanzlerpartei.

Von Nico Fried und Mike Szymanski

Es ist, als ob sich etwas löst, etwas Bahn bricht, nach so langer Zeit. Wenige Sekunden nach 18 Uhr. Jubel brandet auf wie man ihn lange nicht gehört hat im Willy-Brandt-Haus. Da hat sich gerade der rote Balken für die SPD leicht über den schwarzen für die Union geschoben. Das ZDF sieht in diesem Moment die SPD vorne. In der ARD liegen Union und SPD gleichauf. Aber so ganz genau interessiert das hier drinnen gerade niemanden. Es ist ein einziges gellendes "Jaaaaa", das durch das Atrium schallt.

Heiko Maas, der Außenminister, beobachtet die Szenerie von ganz oben. An die Brüstung im sechsten Stockwerk gelehnt, schaut er hinab auf seine Partei, die jetzt gar nicht mehr wiederzuerkennen ist. Die SPD auf dem Weg ins Kanzleramt? Die Chancen stehen jedenfalls nicht schlecht.

Um Punkt 19 Uhr tritt Olaf Scholz auf die Bühne. Gut drei Minuten kommt er nicht zu Wort, weil der Jubel nicht endet. Dann sagt er: "Ich freue mich über dieses Wahlergebnis." Nüchterner geht dieser Auftritt kaum.

Aber die Lage ist noch unübersichtlich. Vor zehn Minuten hat sein Konkurrent ums Kanzleramt, Armin Laschet, vor den Unionsanhängern gesprochen. Sein Auftritt wird an den Fernsehern im Willy-Brandt-Haus verfolgt. Da war es für kurze Zeit mucksmäuschenstill geworden, dann, als Laschet sagte, nun müssten alle demokratischen Kräfte daran arbeiten, eine Regierung "unter Führung der Union" zu bilden.

Unter Führung der Union?

Wird Scholz nun auch den Anspruch auf die Regierungsbildung erheben? Er nimmt einen kleinen Umweg: Viele Wähler hätten die SPD gewählt, weil sie einen Regierungswechsel wollten - "und dass der nächste Bundeskanzler Olaf Scholz heißt". Aber das kann natürlich noch dauern.

Jetzt bedankt er sich erstmal dafür, dass er hier oben auf der Bühne als Gewinner stehen darf, ohne genau zu wissen, wie hoch der Erfolg entlohnt werden wird. Aber die SPD steht wohl wieder bei etwa 25 Prozent. "Das ist ein großer Erfolg", sagt Scholz. Es ist eine Art hanseatische Euphorie.

Zum Feiern entschlossen sind die Sozialdemokraten trotzdem schon seit Stunden. Es darf spät werden - und laut. Im Durchgang unter dem Willy-Brandt-Haus, zwischen der Stresemann- und der Wilhelm-Straße, wo es besonders schön hallt, ist alles vorbereitet für die Band Lounge Society. Knallrote Luftballons schweben in der Luft ums Haus herum. So hat man das Haus in Berlin-Kreuzberg lange nicht erlebt. Das Leben ist ins Willy-Brandt-Haus zurückgekehrt.

Ja, tatsächlich, das hier ist eine Wahlparty. Bei der SPD.

Draußen, die Dämmerung legt sich schon übers Willy-Brandt-Haus, steht Peter Tschentscher. Er regiert Hamburg. Scholz war sein Vorgänger als Erster Bürgermeister. In Hamburg hatte Scholz die SPD einst ins Rathaus zurückgeführt. Jetzt, mit ihm als Kanzlerkandidat, hat sich auch die SPD im Bund zurückgearbeitet.

Tschentscher hält einen Plastikbecher mit Wasser in der Hand. Auch das Feiern muss er sich von Scholz abgeschaut haben. Aber seine Laune ist bestens. "Wenn sich das Ergebnis bestätigt, dann sind wir in der SPD richtig vorangekommen", sagt Tschentscher. "Egal, was noch passiert."

Er erzählt, wie die Partei im vergangenen Jahr zur Geschlossenheit zurückgefunden hat. Nachdem Scholz Kanzlerkandidat wurde, hatten die bis dahin üblichen Querschüsse in der SPD aufgehört. Die Vorsitzenden, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, haben sich hinter Scholz eingereiht. Tschentscher sagt: "Ich bin mir sicher, dass das Wir-Gefühl fortbestehen wird."

Wer wissen will, in welch einem erbärmlichen Zustand sich die Partei zwischenzeitlich befunden hatte, der musste in den vergangenen Jahren nur immer mal wieder auf das Willy-Brandt-Haus schauen. Ein Haus der Geschichte. Für die Partei und für einzelne Personen.

Aus der Luft sieht es aus wie ein üppiges Tortenstück. Als die SPD das Haus 1996 bezog, hieß es, in dem Gebäude atme selbst der Teppich noch den Machtwillen. Damals war die SPD aber auch eine Partei, die auf 40 Prozent bei Wahlen zusteuerte. Seither blieb das gläserne Tortenstück in Kreuzberg unverändert groß, die roten Kuchenstücke in den Ergebnis-Diagrammen aber wurden für die SPD immer schmaler.

Das Willy-Brandt-Haus als schicksalhafter Ort

Für Scholz, so oder so der Mann des Abends, ist das Haus bis heute ein schicksalhafter Ort. 2018 verkündete er hier als geschäftsführender Parteichef - Martin Schulz war schon zurückgetreten - das zustimmende Ergebnis der Mitgliederbefragung zur großen Koalition, in der er Finanzminister und Vizekanzler wurde. Ohne diese Regierung und ohne dieses Amt wäre Scholz der Kanzlerschaft wahrscheinlich nie so nahe gekommen wie jetzt, auch weil er sich nicht als der Mann für Kontinuität nach 16 Jahren Angela Merkel hätte inszenieren können.

In den Jahren seither blickte die Partei allerdings erst einmal tief in den Abgrund. Bei der Wahl 2017, die für die Genossen mit einen historischen Tiefpunkt endete, schaffte die SPD gerade einmal 20,5 Prozent. Und danach ging es in den Umfragen noch tiefer runter auf bisweilen nur noch 12 oder 13 Prozent. Es folgten Tiefschläge bei Landtagswahlen und der Wahl zum Europäischen Parlament. Die Vorsitzende Andrea Nahles scheiterte an den Umständen, an sich und an der Partei. Sie trat zurück. Es war der 3. Juni 2019, als sie sich draußen, vor dem Willy-Brandt-Haus, im zugigen Durchgang, mit den Worten verabschiedete: "Machen Sie's gut."

Hier im Brandt-Haus fügten die Genossen Scholz 2019 auch die bitterste Niederlage seines politischen Lebens zu. Damals suchte die Partei nach dem Abgang von Nahles eine neue Führung. Die Mitglieder sollten wählen. Erst wollte Scholz sich nicht für den Vorsitz bewerben, tat es aber dann doch, zusammen mit der Brandenburgerin Klara Geywitz. Er hatte sich schon darauf vorbereitet, am Tag der Entscheidung im Willy-Brandt-Haus die Rede des Siegers zu halten. Und dann wählte die Basis zu seiner großen Verblüffung lieber zwei Außenseiter an die Spitze, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Die Partei zu führen, das trauten ihm seine Genossen nicht zu.

Er hätte damals, im Winter 2019, alles hinwerfen können. Aber das tat er nicht. Er ließ die Zeit für sich arbeiten. Und jetzt, fast zwei Jahre später, hält er hier drinnen tatsächlich die Rede eines Siegers.

Links von ihm auf der Bühne steht Parteichefin Esken, rechts von ihm Parteichef Walter-Borjans. Als die beiden Scholz vor einem Jahr als Kanzlerkandidaten präsentiert hatten, reden sie zu erst und dann noch auffallend lange, gerade so, als ginge es um sie. Nun sagt Esken, es sei Scholz gewesen, der die Menschen davon überzeugt habe, dass man der SPD das Land anvertrauen könne. "Das ist dein Erfolg", sagt sie. Und Norbert Walter-Borjans, der will jetzt schnell zum Feiern. Für ihn steht fest: "Wir haben diese Wahl gewonnen."

Scholz scheint da noch nicht so sicher zu sein. Er will das Endergebnis abwarten. "Dann machen wir uns an die Arbeit." Aber draußen wird die Schlange am Bierstand immer länger.

Esken war eine Hinterbänklerin aus dem Bundestag, als sie an die Spitze der Partei rückte. Norbert Walter-Borjans, früher Finanzminister in Nordrhein-Westfalen, eigentlich schon im Ruhestand. Esken bestaunte in jenen Tagen, als die beiden als Vorsitzende ins Willy-Brandt-Haus einzogen, fast ehrfürchtig die Willy-Brandt-Statue, die im Atrium steht und an diesem Abend aussieht, als halte sie die Hand schützend über die Bühne.

Scholz mied bis zum heutigen Tag das Haus für große Auftritte.

Die SPD hat sich verwandelt in den vergangenen Wochen

Die SPD ist in den vergangenen Wochen eine andere Partei geworden. Allein der Umstand, in den Umfragen bei 25 Prozent und mehr gehandelt zu werden und vor der Wahl bei den Demoskopen vor der Union zu liegen, das hat mit den Genossen etwas gemacht. Der Partei-Organismus strahlt plötzlich wieder Selbstbewusstsein aus.

Im Büro von Kevin Kühnert, der zum SPD-Vize aufstieg und nun in der Vorstandsetage im Willy-Brandt-Haus sein Dienstzimmer hat, steht im Regal ein gerahmter Spruch: "Verbunden werden auch die Schwachen mächtig", und neulich lagen Autogrammkarten auf dem Besprechungstisch - solche, mit Scholz vorne drauf.

Norbert Walter-Borjans erzählte Anfang der Woche im Willy-Brandt-Haus, wie die Leute auf ihn zukämen, wenn er etwa im Zug sitze, und ihm sagten, dieses Mal bekäme die SPD wieder ihre Stimme. Jetzt könne man die Partei ja wieder wählen. Auf den Wahlkundgebungen war die Stimmung nicht zu vergleichen mit der Atmosphäre vergangener Jahre. Abgeordnete aus dem Bundestag, die sich nach dem 26. September schon beschäftigungslos wähnten, als sich noch eine Niederlage abzeichnete, haben wieder angefangen, Zukunftspläne für Berlin zu schmieden. Einige denken natürlich auch schon wieder an Posten. Und Scholz selbst? Der machte ja auch längst Pläne. Zum Beispiel, wenn er sich in den Talk-Runden der Spitzenkandidaten Annalena Baerbock zuwandte, um schon vor diesem Tag für Rot-Grün als Kern einer künftigen Koalition zu werben.

Und jetzt? Was bedeutet das - vorne dabei zu sein, eine Regierung möglicherweise nicht nur zu bilden, sondern sie auch anführen zu können? In den großen Koalitionen unter Angela Merkel, die dreimal mit Stimmen der SPD zur Kanzlerin gewählt worden war, kamen die Erfolge des Bündnisses vor allem der Union zugute, während die SPD in all den Jahren immer weiter verkümmerte. Dabei war sie es, die große Teile ihrer Politik durchsetzte. So gesehen ist das tatsächlich eine Art Wiederauferstehung, die die Partei an diesem Sonntagabend im Willy-Brandt-Haus zelebriert.

Eine Kampagne, von der sich die Konkurrenz einiges abschauen konnte

Die sozialdemokratische Idee ist längst nicht tot. Zusammenhalt, Respekt - mit diesen Begriffen hatte Scholz Wahlkampf gemacht. Lange war der Begriff des Respekts diffus. Doch da half die Corona-Pandemie, weil plötzlich viele Arbeitnehmer im Mittelpunkt standen - Krankenschwestern, Pfleger, Verkäuferinnen, Lastwagenfahrer - ohne die wenig läuft in einer Gesellschaft, die aber oft nicht nur schlecht bezahlt, sondern auch wenig gewürdigt werden. Respekt war zum Politikum geworden. Und die SPD antwortete mit einer Kampagne, von der sich die Konkurrenz etwas abschauen konnte. Im August vor einem Jahr wurde die Partei noch dafür belächelt, so früh ihren Kandidaten zu benennen. Aber die SPD hatte dann auch mehr als ein Jahr Zeit, die Kampagne auf Scholz zuzuschneiden. Wenn Armin Laschet mal bei der Frage ins Trudeln geriet, welche drei Themen er als Regierungschef anpacken wolle, konnte Scholz dazu ein ganzes Referat halten: er, die SPD und die 2020er-Jahre. Höherer Mindestlohn, sichere Renten, mehr Wohnungen, schnellerer Klimaschutz. Dazu wurde die Partei, knallig-rot wie lange nicht mehr, in Szene gesetzt.

Je besser die Umfragewerte für Scholz in den vergangenen Wochen wurden, desto leichter federte er über die politische Bühne.

Die Frage ist nun: Was macht die SPD mit dieser neuen Stärke? Und wer wird es sein, der sie verwaltet? Scholz? Klar ist: Ohne ihn hätte es diesen Erfolg nicht gegeben. Klar ist auch: Hinter ihm steht eine Partei, die in großen Teilen anders tickt als er. SPD-Ko-Chefin Esken und Vize Kevin Kühnert liebäugelten mit Rot-Grün-Rot. Aber es sah nicht so aus, als ob es dafür reichen würde. Scholz bevorzugt die Ampel - dafür sollte es reichen. Die Sondierungsgespräche dürften jedenfalls lange dauern. Und die SPD müsste am Ende tatsächlich vorne liegen. Aber dass die SPD überhaupt Gespräche führen kann, das hat die Partei in erster Linie Scholz zu verdanken. Er winkt lange, bevor er die Bühne im Willy-Brandt-Haus verlässt. "Schönen Dank", sagt er noch. Dann wird gewartet. Und gefeiert.

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