Andrea Nahles hatte geahnt, dass es Gegenwind geben dürfte. Sie kannte ihre SPD zu gut, um zu glauben, dass die Basis die rasche Neuordnung der Parteispitze einfach so hinnehmen würde. Nahles wusste, die Empörung würde erheblich sein. Und so kam es dann auch.
Zahlreiche Genossen machten in Schreiben an die Parteizentrale, in Sitzungen und Versammlungen ihrem Unmut darüber Luft, dass ein paar wenige Leute die Macht in der Partei unter sich aufgeteilt hatten und die einfachen Mitglieder, so jedenfalls fühlte sich das für viele von ihnen an, mal wieder vor vollendete Tatsachen stellten. Der SPD-Bezirk Hessen Süd erklärte: "Wir wollen eine Personalauswahl, die nicht in Hinterzimmern stattfindet." Und die Jusos forderten, vom bevorstehenden Parteitag müsse "ein Signal ausgehen, dass die neue Führung es mit der inhaltlichen und strategischen Erneuerung und der Beteiligung der Mitglieder wirklich ernst meint".
Nahles wurde trotzdem zur Generalsekretärin gewählt. So war das, Ende 2009.
Die Vorwüfe ähneln sich
Als die SPD damals unter dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und dem Parteivorsitzenden Franz Müntefering bei der Bundestagswahl auf 23 Prozent abgestürzt war, raufte sich die nächste Generation zusammen und ordnete die Verhältnisse: Neuer Parteichef sollte Sigmar Gabriel werden, Nahles seine Generalsekretärin. Die Vorwürfe, wonach die Sache intransparent ausgekungelt worden sei, klangen fast genauso wie nun, Anfang 2018, da Nahles sich anschickt, den Parteivorsitz zu übernehmen. Die SPD ist eben recht verlässlich in ihren Reflexen.
Wobei es, natürlich, manchen Unterschied zu damals gibt. Der wohl wichtigste bestand zumindest bis zum Dienstagabend darin, dass Nahles und Gabriel 2009 vor dem entscheidenden Parteitag betont demütig durch die SPD zogen und stets betonten, dass sie lediglich Kandidaten seien. Von einem kommissarischen Parteivorsitzenden Gabriel oder einer kommissarischen Generalsekretärin Nahles war damals jedenfalls nicht die Rede. Diesmal hingegen wollte Nahles bereits deutlich vor dem Parteitag das Ruder ergreifen und neben der Führung der Fraktion kommissarisch auch die Führung der Partei vom gescheiterten Martin Schulz übernehmen. So jedenfalls lautete der Plan, bevor am Dienstagnachmittag das SPD-Präsidium zusammenkam. Ob man dabei würde bleiben können, stand aber schon vor der Sitzung in Zweifel.
Die Juristen in der SPD hatten Bedenken
Denn es gab Widerstand. Bis zum Dienstagnachmittag hatten sich schon drei SPD-Landesverbände dagegen ausgesprochen, dass Nahles kommissarisch übernehmen sollte. So begrüßte die Berliner SPD zwar "eine mögliche Kandidatur von Andrea Nahles als Parteivorsitzende", mahnte allerdings an, dass einer der stellvertretenden Parteivorsitzenden das Amt übernehmen solle, bevor Nahles dann beim Parteitag gewählt werden könne. Ähnlich positionierte sich der Landesparteirat der SPD in Schleswig-Holstein. Und auch die Genossen aus Sachsen-Anhalt forderten, bis zur regulären Wahl solle einer der Parteivizes übernehmen.
Nun gehört keiner dieser Landesverbände zu den machtpolitisch bedeutenden Gliederungen in der SPD. Doch bereits am Montagabend hatte sich die fachlich zweifellos qualifizierte Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen mit Bedenken zu Wort gemeldet. Deren Vorsitzender Harald Baumann-Hasske monierte in der Welt, dass man "auf die üblichen Vertretungsregelungen für den Vorsitzenden verzichten" wolle, obwohl es sechs Stellvertreter gebe. Für die kommissarische Übernahme des Vorsitzes durch Nahles gebe es "satzungsmäßig keine Grundlage". In den Statuten sei das nicht vorgesehen. Auch mehrere Wissenschaftler äußerten Zweifel am Verfahren. In der Debatte fiel auch der Hinweis, dass Nahles derzeit nicht einmal gewähltes Mitglied des Parteivorstands sei.
Sollte die SPD-Spitze, kurz nachdem sie sich auf den Plan verständigt hatte, doch noch umschwenken müssen? Vor den Sitzungen von Präsidium und Parteivorstand zeichnete sich das zunächst nicht ab - stattdessen gab es starke Anzeichen dafür, dass die engste Parteiführung vorhatte, bei der einmal eingeschlagenen Linie zu bleiben. Doch dann folgte die Wende: Am Ende der Präsidiumssitzung stand das Ergebnis, dass Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz die Partei kommissarisch führen solle, bis zum Sonderparteitag am 22. April. Dann soll sich Nahles zur Wahl stellen.
Warum nun Scholz, der doch beim Parteitag im Dezember mit 59,2 Prozent das schlechteste Ergebnis aller sechs stellvertretenden Parteichefs bekommen hatte? Warum nicht stattdessen die in der Partei deutlich beliebtere Regierungschefin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer? Weil, so die Begründung, Scholz der dienstälteste unter den Stellvertretern ist - gemeinsam mit Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
Nahles hat eine Herausforderin
Das ist eine Wende, nach der man mit Fug und Recht von einem missglückten Start für Nahles sprechen darf - auch wenn das Präsidium sie in derselben Sitzung einstimmig für den Parteivorsitz nominierte. Doch es ging eben neben der rechtlichen auch um eine politische Frage: Welches Signal sendet man an eine frustrierte, nach den jüngsten Ereignissen vollkommen verunsicherte Partei? Dass bei Nahles offenbar angekommen ist, welchen neuen Unmut ihr Plan ausgelöst hatte, zeigte sich bei einem kurzen Auftritt am Dienstagabend, gemeinsam mit Scholz und Generalsekretär Lars Klingbeil. Es sei "ein Statement für sich", nun bis zum Parteitag zu warten, sagte sie da. Die Botschaft: Ich habe verstanden. Und Scholz versicherte: "Meine Aufgabe ist eine dienende." Beim Parteitag sei diese Aufgabe beendet. Bloß keine Spekulationen aufkommen lassen.
Schließlich hat Nahles seit Dienstagmorgen ohnehin eine Herausforderin: Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange kündigte an, für den SPD-Vorsitz zu kandidieren. Was im ersten Augenblick wie ein weiterer Rückschlag für Nahles aussah, könnte sich mittelfristig allerdings sogar als Glücksfall für sie erweisen: Sollte Lange ihre Kandidatur bis zum Parteitag aufrechterhalten und sollte Nahles sich dort erwartungsgemäß durchsetzen, hätten es jene Kritiker schwer, die dieser Tage die vorgeblich undemokratische Postenvergabe an der Parteispitze anprangern.
Bleibt die Frage einer Urwahl, wie sie von Teilen des linken Parteiflügels gefordert wird. Hier wird an der Parteispitze darauf verwiesen, dass vom Organisationsstatut bislang lediglich die Urwahl von Spitzenkandidaten vorgesehen sei, nicht aber von Vorsitzenden. Allerdings hat es bereits 1993 eine Art Urwahl des Parteichefs gegeben, bei der sich Rudolf Scharping durchsetzte. Er musste dann noch von einem Parteitag bestätigt werden.