Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles im Juni hatten wir uns mit einigen Vertreterinnen und Vertretern der SPD-Basis über ihre Stimmung und die Entwicklung in der Partei unterhalten. Nachdem sich die Kandidaten-Duos für den Parteivorsitz auf Regionalkonferenzen vorgestellt haben und die Mitglieder zwischen ihnen auswählen konnten, haben wir erneut mit ihnen Kontakt aufgenommen und gefragt: Wie steht es nun um ihre Partei?
"Nicht weiter so"
Was die SPD angeht, bin ich guter Dinge. Ich glaube, der Prozess mit der Mitgliederbefragung und den Regionalkonferenzen war der einzig richtige Weg, um den neuen Vorstand zu bestimmen. Das war der Wunsch der Mitglieder, das war basisorientiert.

Dabei hat sich innerhalb der Partei eine positive Debattenkultur entwickelt. Mit Andrea Nahles als Vorsitzender wurde vor ihrem Abgang ja nicht fair umgegangen. Jetzt durfte ich Diskussionen erleben, die respektvoll geführt wurden. Das hat innerparteilich viel gerettet.
Ich hoffe, dass das Team, das am Ende den Vorsitz übernimmt, es schaffen wird, die Parteimitglieder hinter sich zu scharen - es müssen sich dann auch diejenigen dahinter stellen, die es nicht gewählt haben. Wir müssen innerparteilich zueinanderstehen.
Die neuen Vorsitzenden müssen es dann in den Fokus stellen, die Glaubwürdigkeit der SPD wiederherzustellen, die Bevölkerung muss sehen, was wir wirklich leisten können und auch jetzt schon leisten. Denn die SPD hat ja große Schritte erreicht. Jüngstes Beispiel ist die Mindestvergütung für Auszubildende. Aber viele Menschen glauben der SPD nicht mehr. Da ist in der Vergangenheit viel verloren gegangen.
Für mich ist ganz wichtig: Nicht weiter so. Und ich hoffe, dass es eine linkere Mehrheit gibt. Deshalb würde ich weniger Hoffnung in eine Spitze mit Olaf Scholz und Klara Geywitz setzen. Das Team, das für mich am meisten für Neuanfang und Glaubwürdigkeit steht, sind Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Ich bin begeistert vom Fachwissen von Esken im Bereich Digitalisierung und Walter-Borjans ist jedem ein Begriff, der sich mit Steuern auskennt.

SPD-Regionalkonferenzen:Szenen einer Selbstfindung
Es wurde gebuht und gelacht, gestritten und getrauert: Kurz vor der Abstimmung über den SPD-Vorsitz ziehen sich zwei Kandidaten zurück. Ein Rückblick auf die Regionalkonferenzen der Sozialdemokraten.
Ich selbst bekomme immer wieder mit, dass es eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gibt in Deutschland; Unzufriedenheit, Ängste, der rechte Rand werden immer stärker. Wir müssen mehr sozialen Frieden schaffen. Deshalb sind Themen wie Verteilungsgerechtigkeit oder die Bürgerversicherung von so großer Bedeutung. Diese Dinge werden wir nicht mit der Union erreichen, insbesondere nicht mit der CSU - mit ihr ist es zu schwierig, Kompromisse zu finden. Das sieht man etwa beim Klimapaket. Die Kompromisse in der großen Koalition sind oftmals zu wenig, sie reichen in unserer Gesellschaft nicht aus, um dem Wandel, den wir erleben, entgegenzuwirken.
Von daher kann ich mir nicht vorstellen, dass es mit der großen Koalition einen Neuanfang für die SPD geben kann. Ich bin für Neuwahlen oder eine Minderheitenregierung.
"Im Moment bin ich ganz zuversichtlich"
Es klingt vielleicht paradox, wenn man auf die letzten Entwicklungen schaut, etwa auf das Wahlergebnis für die SPD in Sachsen, aber im Moment bin ich, was meine Partei angeht, ganz zuversichtlich. Die Suche nach den Kandidaten für den Parteivorsitz und die Regionalkonferenzen zeigen, dass in der SPD sehr viel an inhaltlicher Breite vorhanden ist und die Partei wirklich über Köpfe verfügt, die eine ganze Menge bewirken können.

Ich habe die Dresdner Regionalkonferenz im Livestream verfolgt. Weniger der inhaltlichen Positionen der Kandidatinnen und Kandidaten wegen, die ja bekannt sind. Mich hat vielmehr interessiert, wie die Stimmung ist, die Art und Weise des Umgangs miteinander. Ich war froh zu sehen, dass es einen sehr respektvollen, inhaltlichen Dialog gab. Die Kandidaten sind sich nicht persönlich angegangen - so etwas ist der Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren ja nicht fremd gewesen. Sie haben ihre Positionen definiert, die sich zwar unterscheiden, aber alle auf sozialdemokratischer Grundlage stehen.

Protokolle aus der SPD:"Bock, zu kämpfen"
Wie lässt es sich überhaupt noch aushalten, SPD-Mitglied zu sein? Und wie soll die Partei jetzt, nach Nahles' Rücktritt, weitermachen? Fünf Stimmen von der Basis.
Dass es ein Führungsduo geben wird, über das die Mitglieder entscheiden, sehe ich deutlich positiver als im Juni. Damals hatte ich mir gewünscht, dass gezielt Persönlichkeiten gesucht werden, die in der Lage sind, nach innen und außen zu wirken und nicht nur eine vorübergehende Stimmung aufnehmen. Ich hatte die Sorge, dass jemand wie Kevin Kühnert antreten würde. Jetzt bin ich ganz zufrieden, dass man sich getraut hat, eine solche Breite zuzulassen, die sehr viel von dem zeigt, was die Partei immer noch ist. Das wäre vielleicht nicht zum Vorschein getreten, hätte man nur das Willy-Brand-Haus suchen lassen.
Ich gehe davon aus, dass das ganze Prozedere ein positives Signal setzt. Es wird helfen, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen. Und egal, wer den Vorsitz übernimmt, das sind alles glaubwürdige Charaktere, die innerhalb und außerhalb der SPD auch Menschen, die von der Partei enttäuscht sind, wieder mitnehmen können. Ich gehe auch davon aus, dass die Themenlage, die sich derzeit entwickelt, von der SPD gut bearbeitet werden kann. Beim Klimaschutz muss die SPD allerdings lernen, das Thema, das man bislang weitgehend den Grünen überlassen hat, stärker zu besetzen. Außerdem ist die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ein SPD-Thema.
Im Wahlkampf in Sachsen habe ich erlebt, dass es schwer ist, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, weil es ein großes Misstrauen auch der SPD gegenüber gibt. Aber was immer verfangen hat, war die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Wie der Mindestlohn sind diese Rente und etwa der Mietpreisdeckel in Berlin für viele Leute Positionen, die ausstrahlen.
Meine Favoriten für den Vorstand ist das Duo Boris Pistorius und Petra Köpping. Die beiden sind gelernte Kommunalpolitiker, die wissen, was die Menschen wirklich bewegt - von Migrationsfragen und Sicherheit über bezahlbares Wohnen, öffentlichen Personennahverkehr bis zum Flächenverbrauch für die Energiewende. Und für die Menschen im Osten ist Petra Köpping eine tragende Figur.
"Ich bin eigentlich Optimistin"
Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles als Parteivorsitzende bin ich SPD- und Juso-Mitglied geworden, weil ich es wichtig finde, dass es die Partei weiterhin gibt. Gelegenheit, mich so richtig zu engagieren, gab es noch nicht. Ich bin aber eine der Jugendbotschafterinnen der Kampagnenorganisation One, die sich weltweit für das Ende extremer Armut und vermeidbarer Krankheiten einsetzt und die dazu auch mit der SPD zusammenarbeitet.

Dass die Partei ihre neuen Vorsitzenden über einen Mitgliederentscheid wählt, finde ich richtig. Ich bin auch ein großer Fan der Doppelspitze und dass sich sehr viele unterschiedliche und sogar eher unbekannte Kandidatinnen und Kandidaten vorstellen konnten, ist genau das, was die SPD gerade braucht. Auf das Ergebnis der Mitgliederentscheidung bin ich sehr gespannt, denn die Parteimitglieder, mit denen ich gesprochen habe, haben sehr unterschiedlich gewählt.
Ich selbst habe das Duo Christina Kampmann und Michael Roth gewählt, weil sie mich durch ihren Fokus auch auf außenpolitische Themen überzeugt haben und meiner Meinung nach genau für den Aufbruch stehen, den die SPD gerade braucht.
Für eine Partei mit einer so langen Geschichte wie die SPD, ist es sicher nicht einfach, die Strukturen zu ändern. Ich gehe davon aus, dass die neuen Vorsitzenden Anstöße geben werden dafür, wie den Leuten die guten Ideen, die die SPD für mich ausmachen, besser vermittelt werden können. Das gelingt in der großen Koalition einfach nicht. Vor allem muss die SPD jetzt gegen das vorgehen, was die soziale Spaltung in der Gesellschaft begünstigt. Da geht es etwa um die Renten und die Miete.
Ich bin eigentlich Optimistin, aber Wahlergebnisse wie in Sachsen machen mich natürlich nachdenklich. Ich glaube aber, dass man zumindest alles versucht haben sollte, um die Leute wieder abzuholen.
Ich glaube übrigens, es wäre gut gewesen, wenn die Partei nach der letzten Bundestagswahl in die Opposition gegangen wäre, um dort wieder stärker zu werden. Jetzt, vor der Halbzeitbilanz der SPD zur schwarz-roten Regierung, bin ich gespalten: Wenn die SPD wieder zu alter Größe zurückwill, sollte sie die Koalition beenden. Auf der anderen Seite würde es bei vielen Menschen nach den langen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen 2017/18 wahrscheinlich viel Frustration erzeugen, wenn jetzt schon wieder gewählt werden müsste. Und eigentlich dürfen wir auch keine Zeit verschwenden. Die SPD sollte aber auf jeden Fall mutiger werden, die eigenen Ideen stärker zu vertreten.
"Die Partei hat das ganz gut hinbekommen"
Der Prozess zur Kandidatenfindung war zufriedenstellend. Ich finde es gut, dass es endlich Regionalkonferenzen gab und zwar so viele, dass die Menschen im gesamten Bundesgebiet gehört wurden. Ich war zwar nicht dabei, habe aber im Livestream zugeschaut.

Es waren auch nicht zu viele Kandidaten. Es gab junge und alte, bekannte und unbekannte - teilweise aus dem Establishment und teilweise regierungskritisch. Es ist auch gut, dass es eine Doppelspitze geben wird. Die Partei hat das ganz gut hinbekommen. Das muss bei der Suche nach einem Kanzlerkandidaten auch so gemacht werden. Da brauchen wir eine Urwahl.
Ich finde es schade, dass Hilde Mattheis ihre Kandidatur bei der Wahl für den Vorsitz zurückgezogen hat. Ihre Beiträge waren gut und lebhaft. Sie haben dazu beigetragen, dass auch wirtschafts- und finanzpolitisch diskutiert wurde. Ich habe dann Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gewählt. Esken hat im Bundestag gegen das Geordnete-Rückkehr-Gesetz gestimmt, also gegen eine weitere Verschärfung des Asylrechts, des Aufenthaltsrechts und des Staatsangehörigkeitsrechts. Das rechne ich ihr sehr hoch an. Bei Walter-Borjans schätze ich sehr, dass er als Finanzminister von NRW entschieden hat, Steuer-CDs zu kaufen. In dem Team sehe ich einen Fahrplan, die Agenda 2010 und Hartz IV hinter uns zu lassen und aus unseren Fehlern zu lernen. Ich nehme es ihnen ab, dass sie einen geordneten Neuanfang wollen und dafür einen Plan haben.
Ich fände es auch gut, wenn nach der Wahl andere Kandidaten wie etwa Hilde Mattheis, Gesine Schwan oder Nina Scheer eingebunden werden. Wenn Esken und Walter-Borjans eine Idee haben, mit Olaf Scholz oder Boris Pistorius zusammenzuarbeiten, dann geht das. Aber inhaltlich bezweifle ich es. Dafür sind die Unterschiede zu groß. Das ist dann kein Neuanfang.
Bei der großen Koalition stellt sich die Frage: Haben wir es in der Regierung geschafft, das Leben der Menschen besser zu machen, ja oder nein? Aus meiner Sicht: Nein, das war zu wenig.
"Die Rückmeldungen von der Parteibasis sind positiv"
Die Rückmeldungen aus der Parteibasis zu diesem breit angelegten Prozess der Personalfindung, der auch ganz gut kommuniziert wurde, sind positiv. Ich selbst denke, die Regionalkonferenzen waren eine gute Idee. Die SPD hat eigentlich eine lange Tradition des innerparteilichen Wettstreits um die besten Ideen und besten Konzepte. Es gibt ja nicht wenige, die sagen, die Partei zerreißt sich immer wieder selbst und zeigt zu wenig Geschlossenheit. Das galt immer als vermeintliche Schwäche der SPD, aber ich und viele andere haben es immer für eine Stärke gehalten, offen seine Meinung sagen zu können und demokratisch in diesen Wettstreit treten zu können.

Ich wüsste auch nicht, was die Alternative gewesen wäre. Wir wählen uns jetzt den großen Macher und der entscheidet dann allein, wo es langgehen soll? Ein Aufbruch der SPD kann nur gelingen, wenn die Entscheidung über den Vorsitz so breit angelegt ist, dass alle Teile der Partei, auch Flügel, die sich vielleicht unterlegen fühlen, beteiligt sind und alle im solidarischen Grundkonsens nach vorn schauen.
Aber eigentlich ist im Augenblick noch das große Warten angesagt, sowohl in personeller als auch in politischer Hinsicht. Es gibt ja sehr diverse Meinungen zur Koalitionsbeteiligung und die Personalentscheidung ist natürlich ein Stück weit daran gekoppelt, in welche Richtung es jetzt gehen soll.
Solange der Vorstand nicht gewählt ist, solange die Frage nicht abschließend geklärt ist, ob die große Koalition fortgesetzt wird und keiner weiß, wo es strategisch hingehen soll, wird das Ganze an der Basis noch als Hängepartie wahrgenommen. Es herrscht positive Gespanntheit.
Wir brauchen jetzt eine ganz klare Bilanz dessen, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Die schlechten Ergebnisse bei den Landtagswahlen waren ja nicht überraschend, dort hat sich weiter fortgesetzt, was alle Kritiker der großen Koalition vorher schon gesehen haben, und was wir an der Basis seit Langem befürchten: So viel Positives in der Regierungsverantwortung auch bewirkt werden konnte - letzten Endes wurden die Erfolge nicht der SPD zugeschrieben. Die Erkennbarkeit ist nicht mehr da, noch weniger im Vakuum der Führungslosigkeit.
Ich glaube, die SPD sollte jetzt nicht versuchen, die Grünen oder die Linken zu überholen, sondern sich eher zurück in die Mitte bewegen und die - aus Sicht mancher Politiker vielleicht banalen - Sorgen der einfachen Leute wieder ernst nehmen. Die großen Zukunftsfragen liegen alle auf dem Tisch. Es geht jetzt darum, ganz nüchtern, im Dialog und Abgleich mit den Interessen der Menschen, zu klären, wie man seine Pläne umgesetzt bekommt. Ich bin da eher ein konservativer Sozialdemokrat und halte es mit der Politik von Helmut Schmidt. Es ist deshalb sicher keine Überraschung, wenn ich verrate, dass ich das Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz gewählt habe.