Um es im derzeit gebräuchlichen Krisenjargon der Berliner Politik zu formulieren: Die Wahl von Andrea Nahles an die Spitze der SPD war "erforderlich" und "angemessen". Erforderlich, weil das Neue darin liegt, dass nun auch die SPD nach 154 Jahren endlich von einer Frau geführt wird. Ob sich mit dieser Personalie auch die lange versprochene Erneuerung verbindet, wird sich zeigen. Die Machos in der Partei haben jedenfalls Sendepause. Breitbeinig auftreten kann Nahles aber genauso. Ihr Aufstieg verkörpert das Versprechen der Chancengerechtigkeit aufrichtiger als jahrelange Textarbeit an Reformvorschlägen und Gesetzesvorhaben. Die SPD ist mit dem Parteitag von Wiesbaden ein Stück moderner und glaubwürdiger geworden und dies, in dieser Frage, zur Abwechslung ganz ohne das große Drama.
Nahles' Wahl zur Parteivorsitzenden ist zudem angemessen. Sie ist keine 100-Prozent-Kandidatin, das war sie nie. Wo Nahles ist, da sind auch Gegner. Die Personalentscheidung spiegelt damit auch die Zerrissenheit der SPD wider. Martin Schulz, der mit seinem 100-Prozent-Ergebnis Parteigeschichte geschrieben hatte, stellte sich als große Selbsttäuschung heraus. Die Sozialdemokraten wollten in ihm einen Erlöser sehen. Er zerbrach an dieser Aufgabe. Das sollte Mahnung genug sein, nicht wieder alle Verantwortung bei einer Person abzuladen. So gesehen, ist ein Ergebnis unterhalb der hundert Prozent für Nahles gut. Die Partei ist ehrlich zu sich selbst. Bei Nahles' Start an der Spitze der SPD quietscht es dennoch gehörig. 66 Prozent sind selbst für sie ernüchternd.
Dass die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange das Partei-Establishment mit ihrer Gegenkandidatur für den Vorsitz herausgefordert hat, belegt, dass Nahles nichts geschenkt bekommt. Eine echte Bedrohung für Nahles war Lange zu keinem Zeitpunkt. Ihr Narrativ von einem angeblich abgehobenen Machtzirkel an der Spitze der SPD, der "die da unten" nicht mehr versteht, hat nicht verfangen. Ebenso wenig die Verklärung der Oppositionsrolle. Wer lieber als Teil der Regierung sozialdemokratische Politik umsetzen will als in der Opposition nur zu lärmen, ist nicht automatisch machtgeil. Der Koalitionsvertrag zeigt, dass die SPD auf dem Papier einen Plan hat.
Ergebnisse um 20 Prozent können die Ansprüche einer Volkspartei nicht bedienen
Den bequemeren Weg hat Nahles jedenfalls nicht gewählt. Die Partei steht vor gewaltigen Aufgaben, struktureller wie inhaltlicher Natur. Sie hat das Anspruchsdenken einer Volkspartei, die Anhänger pflegen die entsprechende Erwartungshaltung. Mit Wahlergebnissen um die 20 Prozent wird sie beides nicht mehr lange bedienen können. Schon jetzt gibt es zahlreiche Landstriche, in denen die SPD so gut wie nicht mehr vorkommt. Und ja, die SPD muss konkret sagen, was sie unter "Erneuerung" unter diesen Bedingungen versteht und leisten kann.
Nahles hat noch nicht auf alle Fragen Antworten. Wie wird aus der Digitalisierung eine Chance für die SPD-Anhänger? Kann die Partei verhindern, dass das Wohnen als neue soziale Frage noch mehr Verlierer hervorbringt? Findet sie einen Weg, die SPD-Anhänger mit Hartz IV doch noch zu versöhnen, wie auch immer die Grundsicherung einmal heißen und funktionieren wird?
Nahles hat ein Kämpferherz wie nur wenige andere in der Partei. Der SPD gehen die Chancen für Neuanfänge allmählich aus. Nahles hat ihre verdient.