Süddeutsche Zeitung

SPD-Vorsitz:Warum Scholz glaubt, es machen zu müssen

Als sich Andrea Nahles zurückzog, lehnte der Finanzminister eine Kandidatur gleich ab. Jetzt tritt er doch an. Er hat mit Widerstand zu rechnen - und trotzdem gute Chancen.

Von Cerstin Gammelin und Mike Szymanski, Berlin

Bei Finanzminister Olaf Scholz soll in letzter Zeit oft das Telefon geklingelt haben. Und immer wieder soll es um dieses eine Thema gegangen sein, die Suche der Partei nach einer neuen Spitze. Scholz hatte sich selbst dieses Mal nur die Zuschauerrolle auferlegt. Gut möglich, dass er davon überzeugt war, er würde überhaupt nicht mehr gefragt werden.

Es war Sonntag, der 2. Juni. Andrea Nahles hatte ihren Rückzug von der SPD-Spitze erklärt. Und abends saß Scholz im Fernsehen, in der sonntäglichen Talkrunde der ARD. Nahles' Rückzug hatte ihn getroffen. Ihren Platz einnehmen, das wollte er nicht. Er sagte: Der Parteivorsitz sei mit seinem Amt als Finanzminister und seiner Funktion als Vizekanzler nicht vereinbar. Dies klang wie eine Ausrede, eine dünne noch dazu.

Es war damals die schnellste Absage an die Partei, Verantwortung zu übernehmen, aber bei Weitem nicht die letzte. Wirklich überraschend kam sie nicht. Scholz hatte an Nahles' Seite die SPD in diese große Koalition geführt. Ihr Scheitern war in gewisser Weise auch sein Scheitern. Und er war sich sicher, er würde wohl der Letzte sein, den sich die Sozialdemokraten gerade jetzt an der Spitze wünschen. Weder als Interimschef, der er schon einmal war, noch als die neue Nummer eins.

Olaf Scholz, 61 Jahre alt, so schien es, war schon raus. Jetzt aber meldet er sich zurück. Anfang der Woche hat er in einer Telefonschalte mit den kommissarischen Chefs Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel seine Bereitschaft erklärt, doch für den Parteivorsitz anzutreten. "Ich bin bereit anzutreten, wenn ihr das wollt", zitiert der Spiegel ihn, der am Freitag zuerst darüber berichtet hatte. Auf einmal bekommt die Kandidatenfindung in der SPD eine Wendung.

Es sind nicht mehr nur Leute aus der zweiten und dritten Reihe der Partei, die diese einst stolze Partei führen wollen und die ganz offen oder insgeheim schon mit der großen Koalition abgeschlossen haben. Auf einmal geht es wieder um das große Ganze. Um den Wunsch in der Partei zu regieren. Zu machen, nicht nur zu reden. Vielleicht sogar einmal wieder den Kanzler stellen zu können.

Für diesen Optimismus steht unverdrossen Olaf Scholz, dafür stand er immer. Selbst dann noch, als das schon ein bisschen lächerlich wirkte für eine Partei, die erst auf 15, und mittlerweile auf nur noch magere zwölf Prozent abgerutscht ist.

Scholz muss jetzt "ins Risiko gehen", wie seine Leute im Ministerium sagen

Nach Nahles' Rückzug hat Scholz sich in die Routinen seines Ministeramts geflüchtet. Er war viel in der Welt unterwegs. Wer ihn begleitete, spürte aber, wie sehr Herz und Kopf doch immer in Berlin geblieben waren. Es prägten sich weniger seine Worte im Gedächtnis ein, wenn er vor der Finanzelite referierte, als vielmehr seine leuchtend rote Krawatte. Ein Statement - sogar im fernen Japan. Er wurde gefragt: Werden Sie noch Bundesfinanzminister sein am Ende des Jahres? "Ja", sagte Scholz. Aber auch kein Wort mehr.

Nahles hat über Scholz einmal gesagt: "Ich schätze an Olaf Scholz ungemein, dass er sich reinkniet und noch nach Lösungen sucht, wo andere schon lange keine mehr sehen."

Jetzt ist es wieder so weit. Er muss nach solchen Lösungen suchen - und "ins Risiko gehen", wie seine Leute im Ministerium sagen. Der Unmut in der Partei wurde in den vergangenen Tagen immer lauter. Niemand aus der ersten Reihe wollte SPD-Chef werden. Stephan Weil nicht, der Ministerpräsident aus Niedersachsen. Franziska Giffey auch nicht, die beliebte Familienministerin. Mit jeder Absage wurde die Not größer. Die Anrufe, die vertraulichen Gespräche, die mit Scholz geführt wurden, hatten eine Botschaft: Einer von euch muss es machen!

Dass Olaf Scholz kandidieren will, heißt nicht, dass jetzt alles gut wird in der Partei. Sein Plan zeigt nur, wie ernst es wirklich um die Partei steht - denn kaum einer der Bewerberduos oder Einzelbewerber dürfte in den nächsten Wochen mehr Argumente gegen sich haben als er.

Was soll mit ihm als Chef besser werden, wo er doch den Kurs der SPD jahrelang mitbestimmt hat? Warum meint er, jetzt antreten zu müssen, obwohl er längst abgesagt hatte? Was soll die große Koalition noch, für die er einsteht, obwohl sie aus Sicht vieler Genossen die SPD nur weiter Richtung Untergang geführt hat? Wie soll ausgerechnet Scholz Herz und Seele dieser traumatisierten Partei erreichen, der es gewohnt ist, mit kühler Logik an die Probleme heranzugehen?

Zum Glück, muss man sagen, soll die SPD diesmal eine Doppelspitze bekommen. Und Scholz werde ganz sicher mit einer Partnerin antreten, so heißt es.

Mit wem? Er sei noch in Gesprächen, heißt es. Tatsächlich, er kann jemanden an der Seite gut gebrauchen, der seine Schwächen ausgleicht. Nur, viele populäre Spitzenfrauen hat die Partei nicht mehr zur Auswahl. Eigentlich. Malu Dreyer und Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentinnen aus Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern haben abgesagt. Aber was heißt das noch, jetzt, da Scholz antritt, der auch nicht wollte? Jemand ganz anderer? Katarina Barley zum Beispiel, die frühere Justizministerin, die gerade ins EU-Parlament gewechselt ist. Vieles ist wieder denkbar. Das Gefühl von großer Leere weicht. Und Scholz?

Muss jetzt überzeugen. Scholz kann etwas. Als Erster Bürgermeister in Hamburg hat er das gezeigt. Er ließ schon Tausende Wohnungen bauen, als die Politik vorsichtig mit dem Wort Mietpreisbremse zu hantieren begann. Er holte dort für die SPD die absolute Mehrheit. Dabei hatte er eigentlich gar nicht vor, zurück nach Hamburg zu gehen. 2007 suchte die Hamburger SPD einen Spitzenkandidaten für die Bürgerschaftswahl. Aber Scholz, Arbeitsminister in Angela Merkels erster großer Koalition, wollte nicht. Er nahm auch Rücksicht auf seine Frau Britta Ernst, die sich landespolitisch engagierte, im Falle seiner Kandidatur aber wohl nicht mehr für die Bürgerschaft hätte kandidieren können. Scholz überredete damals Michael Naumann, ehemals Kulturstaatsminister im Kanzleramt und Mitherausgeber der Zeit, zur Kandidatur. Selten hat man Scholz so gelöst erlebt wie an dem Tag, an dem die Hamburger SPD Naumann nominiert hatte.

Vier Jahre später musste er dann doch selbst ran. Und es wurde gut. Es sprach auch niemand mehr verächtlich über ihn als drögen, emotionslosen "Scholzomat" wie noch in seiner Zeit als Generalsekretär unter Gerhard Schröder. Dann kam das G-20-Fiasko von Hamburg, die ausufernden Krawalle. Der Umgang damit steht vor allem dafür, dass Scholz mitunter zu Selbstüberschätzung neigt und Fehler schwer zugeben kann.

Scholz bekommt nichts geschenkt, wenn er antritt. Im Gegenteil. Man muss sich nur mal mit den Bewerberduos treffen, die schon längst auf Werbetour sind. Die wittern ihre große Chance, gerade weil die Kollegen aus der ersten Reihe so extrem lange gezögert haben. Das eine Bewerberduo, Staatsminister Michael Roth und Christina Kampmann, Landtagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen, arbeitet sich längst am großen Zaudern der sogenannten Schwergewichte ab. Das Bundestags-Duo Karl Lauterbach und Nina Scheer legt einen nicht zu unterschätzenden Eifer an den Tag, die SPD aus der großen Koalition herauszuführen. Simone Lange, die Flensburger Oberbürgermeisterin, die schon Nahles im Wettbewerb um den Parteivorsitz im April 2018 schlecht hat aussehen lassen, will auch wieder mit von der Partie sein, diesmal mit OB-Kollege Alexander Ahrens aus Bautzen an ihrer Seite. Seit Freitag sind auch zwei profilierte Landesminister im Rennen. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius und Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping. Und Gesine Schwan, 76, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und frühere Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin hat nun auch einen Partner gefunden: Parteivize Ralf Stegner.

Im September und Oktober haben die Bewerber eine Deutschlandreise mit 23 Regionalkonferenzen vor sich. Die Mitglieder in dieser Frage faktisch entscheiden zu lassen, spielt Scholz in die Hände. Beim Partei-Establishment ist er nicht sonderlich beliebt, zuletzt wurde er mit nicht einmal 60 Prozent der Stimmen zum Vize gewählt. An der Basis kommt er besser an. Und die Lage ist jetzt die: Bei Scholz weiß man, was man bekommt. Bei den vielen anderen Möchtegern-Chefs wird sich das erst in den nächsten Wochen zeigen.

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Quelle:
SZ vom 17.08.2019/kit
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