Für Andrea Nahles und die SPD stand die Europawahl Ende Mai unter keinem guten Stern. In Deutschland erhielt die Partei lediglich 15,8 Prozent der Stimmen, ein Rückgang um 11,4 Prozentpunkte und das mit Abstand schlechteste SPD-Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl. Die Parteivorsitzende - angetreten, um die SPD zu erneuern - wurde nach der verlorenen Wahl innerparteilich hart angegangen. Nahles fehlte die Unterstützung und so musste sie ihren Posten schon nach gut einem Jahr wieder räumen. Auch den Fraktionsvorsitz im Bundestag gab sie ab.
Für die Sozialdemokraten beginnt damit ein erneuter Umbruch. Kommissarisch übernimmt ein Trio die Parteiführung: Malu Dreyer (rechts), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, und Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Landesvorsitzender in Hessen. Ihre Aufgabe an der Parteispitze ist es vor allem, die Erneuerung der Partei weiterzuführen und den Prozess zur Wahl eines neuen Vorsitzenden einzuleiten. Alle drei kommissarischen Parteichefs haben angekündigt, nicht selbst für den Vorsitz zu kandidieren. Bis zum 1. September können Mitglieder ihre Kandidatur für den SPD-Vorsitz verkünden. Ausdrücklich erwünscht sind Bewerberduos. Von Anfang September an sollen sie sich dann auf 23 Regionalkonferenzen präsentieren, bevor die Mitglieder im Oktober abstimmen. Das Ergebnis soll am 26. Oktober vorliegen. Vereint niemand mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich, soll es zu einer zweiten Befragung über die beiden Erstplatzierten kommen. Wer dann vorne liegt, wird vom Vorstand auf dem Parteitag als künftige Spitze vorgeschlagen. Um ins Rennen um die Parteispitze einsteigen zu können, benötigen die Kandidaten die Unterstützung von mindestens einem SPD-Landesverband oder von fünf Kreisverbänden. Hier sind die Bewerberduos, die die nötige Unterstützung bereits erreicht haben.
Olaf Scholz und Klara Geywitz
Noch im Juni hatte Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (61) gesagt, er stünde aus zeitlichen Gründen nicht für den Parteivorsitz zur Verfügung. Angesichts der bisherigen Kandidatinnen und Kandidaten hat er sich offenbar umentschieden - und ist nun tatsächlich der bekannteste SPD-Politiker im Rennen. Scholz bringt eine Menge Erfahrung in der Bundespolitik mit - vor seiner Arbeit im gegenwärtigen Kabinett Merkel war er bereits Bundesminister für Arbeit und Soziales, seit 2009 ist er einer der stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden. Er war Erster Bürgermeister von Hamburg und Vorsitzender der dortigen SPD. Im Frühjahr 2018 übernahm er nach dem Rücktritt von Martin Schulz kommissarisch den Posten des SPD-Vorsitzenden, bis Andrea Nahles gewählt wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen Bewerbern befürwortet Scholz die große Koalition. Scholz tritt zusammen mit der Brandenburger Landtagsabgeordneten Klara Geywitz (43) an, die ebenfalls Mitglied im Parteivorstand ist und wie Scholz in Potsdam wohnt. 2018 saßen beide in der Hauptverhandlungsrunde, die den Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD auf Bundesebene aushandelte. Seit 2004 ist Geywitz Abgeordnete im Potsdamer Landtag, wo sie durchaus Sinn für Humor beweist. 2016 sagte sie in einer Debatte über ein Burka-Verbot: "Es dürfte in Brandenburg ungefähr so viele Burka-Trägerinnen geben wie illegal eingewanderte Elche aus Polen." Derzeit kandidiert sie für den Wiedereinzug bei der Landtagswahl am 1. September. Geywitz gilt als schonungslos ehrlich, aber auch konfliktfähig. Probleme löst sie eher im Hintergrund. Sie gilt als Nachwuchshoffnung der Brandenburger SPD, ist aber auch mit anderen Landesverbänden gut vernetzt. Von 2008 bis 2013 war sie stellvertretende Landesvorsitzende in Brandenburg, von 2013 bis 2017 Generalsekretärin. Von diesem Amt trat sie aber 2017 zurück, nachdem Regierungschef und Parteikollege Dietmar Woidke ohne Rücksprache die von ihr befürwortete Kreisreform abgesagt hatte. Geywitz und Scholzen haben die Unterstützung des SPD-Landesverbands Hamburg.
Michael Roth und Christina Kampmann
Als erste hatten Michael Roth und Christina Kampmann ihre Hüte in den Ring geworfen. Roth (48) ist seit 2013 Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt. Sollte er SPD-Vorsitzender werden, würde er sein Regierungsamt aufgeben. Er sagt, er habe die Idee für die gemeinsame Kandidatur mit Kampmann (38) gehabt. Diese ergänzte in einem Interview, Sie habe als frühere Standesbeamtin gelernt, "in den richtigen Situationen Ja zu sagen". Aus Kampmanns nur 20 Monate dauernden Zeit als Familienministerin in Nordrhein-Westfalen sind keine großen Impulse in Erinnerung geblieben. Eher beeindruckte sie mit ihrem Ehrgeiz, der ihr bei Genossen den Ruf einer "wandelnden Ich-AG" einbrachte. Sie scheiterte allerdings jeweils mit ihren Vorhaben, 2017 in den SPD-Fraktionsvorstand einzuziehen und 2018 Ministerin in der großen Koalition zu werden. Beide wollen die Partei deutlich nach links rücken, jedoch die SPD "nicht Hals über Kopf" aus der großen Koalition herausführen. Inhaltlich halten sie beispielsweise die Schuldenbremse für überholt und wollen mehr staatliche Investitionen, beispielsweise in Kitas und die Bahn. Sie wollen Kommunalpolitikern mehr Einfluss im Parteivorstand verschaffen. Kampmann und Roth haben bereits alle formalen Anforderungen für die Bewerber erfüllt: Zur Wahl antreten darf nur, wer mindestens fünf Unterbezirke, einen Bezirk oder einen Landesverband hinter sich bringt. Die beiden haben die Unterstützung des SPD-Bezirks Hessen-Nord.
Nina Scheer und Karl Lauterbach
Sie sehen sich selbst als "ziemlich linkes Team": Karl Lauterbach (56) und Nina Scheer (47) wollen die SPD aus der Koalition mit der Union herausführen. Umweltpolitikerin Scheer, die ihren Wahlkreis in Schleswig-Holstein hat, war von Anfang an gegen die Neuauflage der großen Koalition. Aber auch Lauterbach will das Bündnis inzwischen auflösen. Auf fast allen Politikfeldern sei zu wenig erreicht worden, sagt er. Eine der Ausnahmen: die Gesundheitspolitik, Lauterbachs Steckenpferd. Dort arbeite er sehr gut mit Gesundheitsminister Jens Spahn von der CDU zusammen. Die Juristin und studierte Violinistin Scheer ist das unbekanntere Gesicht des Duos. Lauterbach hingegen ist oft in Talkshows zu sehen und einer der profiliertesten Gesundheitspolitiker des Landes. Sein Markenzeichen, die Fliege, trägt er aus modischen Gründen allerdings nur noch selten. Für Scheer und Lauterbach setzten sich außer den Kreisverbänden Herzogtum Lauenburg, Segeberg und Stormarn auch die nordrhein-westfälischen Genossen in Düren, Essen und Leverkusen ein, wie Scheer per Twitter mitteilte.
Petra Köpping und Boris Pistorius
Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping und Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius wollen sich gemeinsam auf den Parteivorsitz bewerben. Pistorius gehört zu den profiliertesten Innenpolitikern in der SPD. Er wurde schon mehrfach als möglicher Nachfolger von Ministerpräsident Stephan Weil gehandelt. Anders als die anderen Bewerberinnen und Bewerber - bis auf Olaf Scholz, der nun auch kandidieren will - gehört er nicht zum linken Flügel der Partei. Ob rein oder raus aus der großen Koalition sei für ihn nicht die Frage, sagte Pistorius. "Wir müssen gucken, was mit der CDU noch möglich ist". Köpping hat sich in Sachsen mit ihrem Engagement für die Integration von Flüchtlingen profiliert, dabei aber auch immer die Belange der Ostdeutschen vertreten. Im vergangenen Jahr veröffentlichte sie eine viel beachtete Streitschrift für den Osten, mit dem Titel: "Integriert doch erst mal uns". Für das Duo spricht sich unter anderem der SPD-Landesvorstand Sachsen aus.
Simone Lange und Alexander Ahrens
Sie will es nochmal wissen: Bei der Wahl zur Parteivorsitzenden im Frühjahr 2018 unterlag Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange (42) gegen Andrea Nahles, erzielte mit 27,6 Prozent aber einen Achtungserfolg. Damals bekam sie vor allem Stimmen von Gegnern der großen Koalition. Nun sagt sie: "Ich fühle mich bestärkt durch das Ergebnis meiner Kandidatur des vergangenen Jahres und trete deshalb erneut an". In einer Außenseiterrolle sehe sie sich diesmal nicht. Lange bewirbt sich zusammen mit dem Oberbürgermeister der sächsischen Stadt Bautzen, Alexander Ahrens (53). Über den Verbleib in der großen Koalition wollen die beiden die Parteibasis befragen und den Mitgliedern einen Ausstieg empfehlen. Die beiden Kandidaten stehen für eine Stärkung der Kommunalpolitik innerhalb der Partei. "Wir wünschen uns die Unterstützung der Kreisverbände", sagt Lange. Bürgermeister und ehrenamtliche Kommunalpolitiker leisteten Basisarbeit. "Umso wichtiger ist es nun, aus diesen Kommunen heraus Verantwortung für unsere Partei zu übernehmen, sie zu erneuern und die drängenden und wichtigen Themen unserer Zeit auf die Tagesordnung zu setzen", sagt Ahrens. Drängendste Themen der Zeit seien die soziale Sicherheit, menschzentrierte Klimapolitik und die Demokratie. Lange zufolge hat das Duo die Unterstützung der Kreisverbände Bautzen (Sachsen), Schmalkalden (Thüringen), Schwarzwald-Baar (Baden-Württemberg), Pfaffenhofen (Bayern) sowie Dithmarschen (Schleswig-Holstein). Weitere könnten noch dazukommen.
Ralf Stegner und Gesine Schwan
Für einen Generationenwandel in der SPD steht dieses Duo nicht. Gesine Schwan ist 76 Jahre alt und seit fast 50 Jahren in der Partei. Sie steigt zusammen mit Parteivize Ralf Stegner (59 Jahre alt und seit 1982 SPD-Mitglied) ins Rennen um die Parteispitze ein. Die beiden Kandidaten unterscheiden sich sowohl bei ihrer politischen Verortung innerhalb der SPD als auch bei der Erfahrung in Führungspositionen. Schwan, die ehemalige Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, ist zwar schon lange dabei, gehörte aber bislang nicht zur ersten Reihe der SPD. Sie war nie Abgeordnete und hatte nie ein Amt in einer Landes- oder Bundesregierung, geschweige denn eine Führungsposition in der SPD inne. Beachtenswert ist dagegen ihre universitäre Karriere. Sie war Politikprofessorin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Präsidentin der Humboldt-Viadrina-School of Governance. Seit 2014 sitzt Schwan, Vertreterin des rechten Parteiflügels, der SPD-Grundwertekommission vor. Auch linke SPD-Mitglieder bescheinigen ihr, dass sie in dieser Funktion sehr gute Arbeit leiste und ideenreich Themen wie die europäische Einigung und Wege zu einer solidarischen Gesellschaft vorantreibe. Stegner bringt deutlich mehr Erfahrung in der SPD-Spitze mit. Er ist seit 2014 einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden und nun das erste Mitglied des Parteivorstands, das sich um den Vorsitz bewirbt. Stegner ist SPD-Fraktionsvorsitzender im Landtag von Schleswig-Holstein und war bis März zwölf Jahre lang Landesvorsitzender seiner Partei. In Kiel war er zudem mehrere Jahre Finanzminister und Innenminister. Stegner ist seit Jahren eine der führenden Figuren des linken Flügels der SPD und fällt immer wieder auch als Kritiker der großen Koalition auf. Besonders durch seine häufigen Auftritte in Talkshows und seine Äußerungen auf Twitter ist er medial präsent - und berüchtigt für sein oft mürrisches und schroffes Auftreten. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur befürworten die Kreisverbände Pinneberg und Rendsburg-Eckernförde sowie die Unterbezirke Bremen-Nord, Rosenheim-Land und Frankfurt (Oder) die Bewerbung des Duos
Hilde Mattheis und Dierk Hirschel
Für einen "radikalen Neustart" stehen Hilde Mattheis (64), Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Forums demokratische Linke 21 in der SPD, und Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft Verdi. "Wir haben eine klare Analyse, warum die Partei am Boden liegt." So gelinge es der SPD in der großen Koalition nicht, eine wirklich soziale Politik zu machen. Die SPD müsse Hartz IV überwinden sowie für einen Mindestlohn von mindestens 12 Euro, flächendeckende Tarifverträge und einen Ausbau des Sozialstaats streiten, forderte Hirschel. Der Partei sei es nie gelungen, mit der Politik der Agenda 2010 zu brechen. Mattheis zufolge hat das Bewerberteam die Unterstützung von fünf SPD-Unterbezirken.
Norbert Walter-Borjans (66) ist bundesweit durch den Ankauf sogenannter Steuer-CDs bekanntgeworden. Er war von 2010 bis 2017 Finanzminister in Nordrhein-Westfalen und dafür verantwortlich, dass das Bundesland 2012 mehrere CDs mit vermutlich gestohlenen Steuerdaten erwarb. Der kurz "Nowabo" genannte Politiker gilt in der Partei als beliebt. Er tritt zusammen mit der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken (58) aus Baden-Württemberg an. Esken schrieb auf Twitter, die SPD solle offener und digitaler werden, eine neue politische Kultur in der Partei erarbeiten "und dabei von Kahrs (Vertreter des rechten Parteiflügels, Anm. d. Red.) bis Kühnert alle mitnehmen". Juso-Chef Kevin Kühnert, der nicht für den Vorsitz antritt, kann sich offenbar vorstellen, das Duo zu unterstützen: "Da würde ich die Partei in guten Händen sehen." Esken und Walter-Borjans haben die Unterstützung des Landesverbands Nordrhein-Westfalen.