Süddeutsche Zeitung

SPD:Esken und Walter-Borjans fordern die Union heraus - aber vorsichtig

  • Kanzlerin Merkel zeigt sich offen für Gespräche mit dem neuen SPD-Führungsduo. Den Koalitionsvertrag will sie aber nicht neu verhandeln.
  • Seit dem Mitgliedervotum für Esken und Walter-Borjans wackelt das Regierungsbündnis. SPD-Bundestagsfraktion und Regierungsmitglieder wollen aber in dem Bündnis bleiben.
  • Besonders bei drei Themen will die neue SPD-Führung punkten. Und auch die Union hat eine Wunschliste.

Von Mike Szymanski, Berlin

Reden? Geht immer. Wenn die designierten SPD-Chefs, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, jetzt noch einmal mit der Union über neue Projekte der Koalition sprechen wollen, dann stehen zumindest bei Kanzlerin Angela Merkel die Türen im Kanzleramt einen Spalt weit offen. Ihr Sprecher sagte am Montag: "Eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags steht nicht an. Aber im Koalitionsvertrag und auch in der Praxis dieser Koalition ist es natürlich angelegt, dass, wenn ein Koalitionspartner über neue Vorstellungen sprechen will, man dann zusammenkommt."

Die Koalition bekommt wohl noch ein bisschen Zeit geschenkt. Das Treffen, das auch ein Kennenlernen sein soll, so der Sprecher, würde natürlich erst nach dem Parteitag der Genossen am Wochenende stattfinden. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans müssen ja noch offiziell an die Spitze der SPD gewählt werden. Ganz so schnell dürfte die Koalition also nicht platzen. Das hätte fast schon etwas Unhöfliches. Dennoch: Das Regierungsbündnis wackelt seit Samstag wieder sehr bedrohlich. Beim Mitgliedervotum der SPD hat das Lager der Regierungswilligen um Vizekanzler Olaf Scholz durch dessen Niederlage im Kampf um den Parteivorsitz einen gehörigen Dämpfer bekommen. Doch einfach raus aus dem Bündnis? So schnell geht das nicht, selbst wenn Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans und ihr Mann im Hintergrund - Juso-Chef Kevin Kühnert - dieses Ziel verfolgen sollten.

Das Ergebnis vom Samstag legt ihnen Fesseln an. Knapp die Hälfte der Genossen hat sich gar nicht erst an der Abstimmung beteiligt. Von den gültigen Stimmen entfielen immer noch gut 45 Prozent auf das Bewerberteam Olaf Scholz und Klara Geywitz. Dieses Ergebnis lässt sich auch als Votum für die Fortsetzung der großen Koalition interpretieren, denn dafür stand das Duo. Hinzu kommt: Auch fast die gesamte Bundestagsfraktion will im Bündnis bleiben, die Regierungsmitglieder wollen das sowieso. Diesen Widerstand können Esken und Walter-Borjans nicht ignorieren.

Im Koalitionsvertrag steht, dass zur Halbzeit über neue Vorhaben gesprochen werden kann

Sie müssen sich bis zum Parteitag, der am Freitag in Berlin beginnt, in der Kunst des Kompromisses behaupten. Das gilt zum einen nach innen, denn das Votum hat eine zerrissene Partei zurückgelassen. Das gilt aber auch nach außen, im Umgang mit der Union, von der die SPD jetzt etwas will. Darin liegt eine gewisse Ironie: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben der bisherigen Führung der SPD wiederholt zum Vorwurf gemacht, zu kleinmütig in Verhandlungen mit der Union gegangen zu sein. Die Kompromisse hätten nichts getaugt und seien zulasten der SPD gegangen. Ob sie es besser machen werden?

Verhandlungsspielraum gibt es: Im Koalitionsvertrag steht, dass zur Halbzeit über neue Vorhaben gesprochen werden kann, wenn "aktuelle Entwicklungen" dies erforderlich machten. Esken und Walter-Borjans wollen vor allem bei drei Themen mehr rausholen: Sie wollen Milliarden in die öffentliche Infrastruktur investieren. Sie wollen das Klimaschutzpaket verschärfen und einen Einstiegspreis von 40 anstatt zehn Euro je Tonne CO₂. Und sie wollen einen sozialer ausgestatteten Arbeitsmarkt samt Mindestlohn von zwölf Euro.

Die Union hat natürlich ihre eigene Wunschliste. Bei der Aussprache zum Haushalt hat Merkel im Bundestag betont, wie wichtig ihr eine Unternehmenssteuerreform ist. Die wird seit längerer Zeit in der Union gefordert. Es ist auch kein Geheimnis, dass die Union den Soli am liebsten für alle Zahler abschaffen würde und nicht nur für 90 Prozent. Mehr Beweglichkeit bei Auslandseinsätzen wünscht sich speziell CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Der Vorstoß für Nachverhandlungen ist nicht aussichtslos

Auf beiden Seiten gibt es Punkte, die ziemlich sicher nicht mit dem Koalitionspartner zu machen sein dürften. Etwa ein schneller Sprung beim Mindestlohn auf zwölf Euro für die Union. Oder aufseiten der SPD die Abschaffung des Soli für Spitzenverdiener. Das Klimapaket muss aber sowieso wieder aufgeschnürt werden, weil die Länderkammer Teile davon gestoppt hat. Ein Investitionspaket wie es sich das neue SPD-Führungsduo wünscht? Auch da dürfte die Union von vornherein eigentlich nicht Nein sagen können.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich: Aussichtslos ist der Vorstoß von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans keineswegs. Sie sprechen jetzt auch schon eher von einem "Update" des Koalitionsvertrages als von Nachverhandlungen. Sprengkraft kann darin trotzdem liegen, nämlich dann, wenn beide Seiten Forderungen aufstellen, die für den Partner kaum anzunehmen sind. Es braucht in den nächsten Tagen also viel Feingefühl auf allen Seiten.

In der Fraktion heißt es, die neuen Chefs müssten sich rasch von Kühnert "emanzipieren"

Undurchsichtig bleibt in der SPD die Rolle von Kevin Kühnert, dem Juso-Chef. Ohne die Unterstützung durch den Parteinachwuchs, der in großen Teilen gerne das Ende der Groko sehen würde, hätten es Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans möglicherweise gar nicht an die Spitze geschafft. Nun mischt Kühnert weiter kräftig mit. Im Interview mit der ZDF-Sendung "Berlin direkt" hatte er den Eindruck erweckt, als könne man selbstverständlich mit der SPD jetzt über alles noch mal reden, Soli-Aus für alle oder Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das hat Irritationen in der Fraktion hervorgerufen, denn dies würde auch heißen, dass die SPD da zu Zugeständnissen bereit wäre. Danach sieht es aber nicht aus. Ist Kühnert derjenige, der mutwillig Gespräche überfrachtet und ein Scheitern einleitet? In der Fraktion heißt es schon, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans müssten sich rasch von Kühnert "emanzipieren", ansonsten werde eine Zusammenarbeit schwierig.

Seit Samstag fragen sich viele im Management der SPD, wie einflussreich Kühnert geworden ist. Sein Auftritt im ZDF war vor Kraft strotzend. "Wir sind keine Anhänger der großen Koalition, wir wollen sie auch nicht bis zum Ende durchziehen", sagte er. Die Jusos "verlangen der neuen Spitze aber nicht ab", in einer bestimmten Schrittfolge "da rauszugehen". Das wäre auch für die Jusos derzeit mit einem großen Risiko verbunden - die SPD ginge nämlich als gespaltene Partei in Neuwahlen.

Als Erstes braucht die Partei jetzt einen Leitantrag für den Parteitag, der aufzeigt, wie die SPD mit der Situation umgehen will. Am Montag traf sich der geschäftsführende Fraktionsvorstand, um darüber zu beraten. An diesem Dienstag kommt das erweiterte Parteipräsidium zusammen. Spätestens Donnerstag soll das Papier stehen. Im Wahlkampf hatte Saskia Esken noch Nachverhandlungen zur Bedingung für eine Fortsetzung gemacht. Nun heißt es in der Fraktion, die neue Spitze solle tunlichst die Finger davon lassen, jetzt schon "rote Linien" zu ziehen. Sonst brauche man auch nicht mehr zu reden.

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SZ vom 03.12.2019/saul
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