Johano Strasser hat die Politik der Sozialdemokraten in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Funktionen stark mitgeprägt, unter anderem in der Grundwertekommission. Der 70-jährige habilitierte Politikwissenschaftler und freie Schriftsteller ist, seit 2002, Präsident des deutschen P.E.N.-Zentrums. Er lebt am Starnberger See und in Berlin. Unter anderem ist zuletzt seine Autobiographie "Als wir noch Götter waren im Mai" erschienen.
Hofft auf eine Erneuerung der SPD: Johano Strasser
(Foto: Foto: dpa)sueddeutsche.de: Herr Strasser, haben Sie manchmal Mitleid mit Ihrer Partei?
Strasser: Einer Partei mit Mitleid zu begegnen halte ich für falsch. Auch der SPD hilft das nicht weiter.
sueddeutsche.de: In Ihrer Autobiographie ist das Kapitel über die Sozialdemokraten mit "Ach, SPD" überschrieben. Ein Stoßseufzer oder ein Ausdruck tiefer Verzweiflung?
Strasser: Es ist eher ein Ausdruck von Wehmut. Weil ich mir die SPD viel mutiger, viel prinzipientreuer, viel erfolgreicher, auch viel frecher wünsche als sie ist. Weil ich mich manchmal darüber ärgere, wie zaghaft ihr Personal ist, wie opportunistisch sich manche verhalten. Andererseits sehe ich nirgends eine andere politische Kraft, die die Lebensinteressen der kleinen Leute vertreten kann.
sueddeutsche.de: Wen meinen sie konkret mit den "kleinen Leuten"?
Strasser: Kleine Leute, das sind alle, die, ob als kleiner Selbständiger oder als abhängig Beschäftigter, ob in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, nur von ihrer Arbeit leben können, die ihre Kinder nicht auf teure Privatschulen schicken, sich nicht privat gegen alle Lebensrisiken absichern können, kurz: die auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind.
sueddeutsche.de: Aber es sind doch genau die sogenannten kleinen Leute, die sich nicht mehr vertreten fühlen durch die SPD, die scharenweise aus der Partei austreten, seit die Agenda 2010 durchgesetzt wurde.
Strasser: Leider, ja. Allein während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder sind mehr als ein Drittel der Mitglieder aus der SPD ausgetreten, frustriert durch eine Politik, die sich nicht erkennbar auf die Seite der kleinen Leute gestellt hat. De facto war aber die Politik noch weniger schlimm als die begleitende Rhetorik einiger Sozialdemokraten. Das hat viel Vertrauen zerstört.
sueddeutsche.de: Also ist am Desaster der SPD vor allem Ihr langjähriger Weggefährte Schröder schuld?
Strasser: Gerhard Schröder ist ohne Zweifel mitverantwortlich. Mit der Agenda 2010 ist unter der Dominanz neoliberalen Denkens ein Schwenk vollzogen worden, der mit den Grundwerten der SPD schwer zu vereinbaren ist. Dass nicht konstruktiv um bessere Konzepte gestritten, sondern den Mitgliedern durch Schröders Basta-Politik der Schneid abgekauft wurde, hat sich lähmend auf die SPD ausgewirkt.
Das zu reparieren, geht nicht von heute auf morgen. Es wird nur gelingen, wenn über die eigenen Versäumnisse diskutiert wird - offen und ehrlich. Demokratische Linke können sich nicht an die Macht schwindeln.
sueddeutsche.de: Sie haben einmal gesagt: "Der Sozialstaat ist die geheime Geschäftsgrundlage der Demokratie". Hat die SPD diese Grundlage in der Ära Schröder verraten?
Strasser: So weit würde ich nicht gehen. Ein Umbau des Sozialstaates war nötig. Aber die allermeisten Menschen sagen auf Dauer nur dann Ja zur Demokratie, wenn unter dem Strich halbwegs gerechte Verhältnisse herauskommen. Wenn sie das Gefühl haben, die Reichen sahnen ab und die Armen müssen es ausbaden, dann sinkt die Zustimmung zur Demokratie.
Das ist das Hochgefährliche an der gegenwärtigen Situation. Ich habe aber den Eindruck, dass die SPD-Führung das inzwischen begriffen hat. Freilich wird es nicht leicht sein, die eingetretenen Schäden wiedergutzumachen. Deshalb ist auch dieser Bundestagswahlkampf für die SPD besonders schwierig.
sueddeutsche.de: Besonders schwer tut sich in diesem Wahlkampf gerade Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier. Er strampelt, aber die SPD kommt nicht voran - sie verharrt im Umfragetief. Ist Steinmeier der richtige Mann in diesem Wahlkampf?
Strasser: Wer soll's denn sonst machen? Kurt Beck hat von Anfang an von den Medien keine Chance bekommen. Er wurde von den meisten Hauptstadtjournalisten als der Trottel vom Lande behandelt. Beim Versuch dagegenzuhalten machte er dann einen Fehler nach dem anderen. Müntefering wäre als Alternative auch noch in Betracht gekommen. Letztendlich war es jedoch plausibel, dass es auf Steinmeier hinauslief.
sueddeutsche.de: Ein nüchterner Pragmatiker, der die Menschen nicht begeistern kann, meinen Kritiker.
Strasser: Ich habe nichts gegen Pragmatiker, deren Politik in einen weiterreichenden Ideenhorizont eingebettet ist und die eine Vision haben.
sueddeutsche.de: Wo ist diese Vision bei Steinmeier und der SPD?
Strasser: Wenn Sie ins Hamburger Programm reinschauen, werden Sie sehr viel dazu finden. Unter anderem wird darin vor entfesselten Finanzmärkten gewarnt und ein wirksamer ordnungspolitischer Rahmen der Finanzmärkte auf internationaler Ebene gefordert. Wohlgemerkt wurde das bereits vor der Finanzkrise beschlossen. Es gab also damals schon ein bisschen Weitblick. Und Steinmeiers Vision einer ökosozialen Marktwirtschaft, seine Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit halte ich für richtig.
Lesen Sie auf Seite 2, was Strasser der Parteispitze im Umgang mit den Linken rät - und wie die SPD aus seiner Sicht wieder erfolgreich werden kann.