Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sieht trotz verstärkter Forderungen nach einer diplomatischen Offensive keinerlei Anzeichen, dass Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin bald zu einem Ende des Ukraine-Kriegs führen könnten. Bei einem Besuch in Kiew verurteilte Pistorius die derzeit „außerordentlich heftigen“ russischen Angriffe auf die Ukraine mit Hunderten Marschflugkörpern und Drohnen. „Das setzt ein klares Zeichen aus Moskau: Es gibt kein Interesse an einer friedlichen Lösung derzeit, sondern es werden mit unverminderter Härte und vor allen Dingen auch wieder zunehmend zivile Bereiche in der Ukraine angegriffen“, sagte Pistorius am Donnerstag in Kiew.
Er kündigte bei einer Pressekonferenz mit Präsident Wolodimir Selenskij weitere 1,9 Milliarden Euro an Militärhilfen an. Folgt der Bundestag dem, dann würde Deutschland der Ukraine im laufenden Jahr die Rekordsumme von etwa neun Milliarden Euro an weiteren Hilfen zur Verfügung stellen. Geplant sind etwa mehr Luftverteidigung, Unterstützung für den Bau von Raketen mit großer Reichweite, die Beschaffung neuer Munition und die Finanzierung der Satellitenkommunikation, da die weitere Unterstützung der USA unter Präsident Donald Trump nicht sicher ist. Nach dem Drohnenangriff der Ukraine auf Kampfflugzeuge in Russland Anfang Juni hat die Gegenseite ihre Angriffe deutlich intensiviert.
Das „Manifest“ fordert Gespräche mit Russland
In der SPD wird unterdessen weiter über den richtigen Umgang mit Russland und Putin debattiert; zudem gibt es wachsende Kritik an weiteren Steigerungen bei Rüstungs- und Verteidigungsausgaben. In einem von zahlreichen Mitgliedern unterschriebenen „Manifest“ wird eine schrittweise Entspannung der Beziehungen zu Russland verlangt. Gefordert werden darin etwa Gespräche über eine „Begrenzung weiterer Eskalation, den Schutz humanitärer Mindeststandards, erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte“. Der langjährige Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich verteidigte das Papier als Mitunterzeichner. „Putin sitzt fester im Sattel denn je“, sagte Mützenich der Süddeutschen Zeitung. „Wir müssen eine Koexistenz finden, um das Überleben zu sichern.“ Ausgerechnet US-Präsident Donald Trump zeige gerade, dass Reden Fortschritte bringen könne.
Mützenich wies den Eindruck zurück, das Papier sei ein Angriff auf SPD-Chef Lars Klingbeil. „Das ist Quatsch.“ Aber es sei ein Fehler, dass nie breiter in der ganzen Partei über eine neue Russlandpolitik diskutiert worden sei und Zwischentöne kaum noch akzeptiert würden. „Irgendwie haben wir uns eingerichtet in so einer Diskussionsfaulheit.“ Das Manifest richtet sich an den SPD-Bundesparteitag, der vom 27. bis 29. Juni in Berlin stattfindet. Direkt davor soll auf dem Nato-Gipfel in Den Haag beschlossen werden, dass die Mitglieder ihre Verteidigungsausgaben bis 2032 auf fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöhen.
Beim Parteitag soll es zu einer Art „Showdown“ kommen
Nach SZ-Informationen bereitet eine Gruppe um den außenpolitischen Sprecher der Fraktion, Adis Ahmetovic, und Boris Pistorius für den SPD-Parteitag eine Art „Showdown“ vor. Demnach könnte es zu einer Kampfabstimmung zwischen den im Manifest geäußerten Ansätzen und einem Gegenentwurf für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik kommen.
Die Unterzeichner haben Pistorius, Vizekanzler Klingbeil und Kanzler Friedrich Merz (CDU) indirekt eine „militärische Konfrontationsstrategie“ vorgeworfen. Klingbeil hatte durchgesetzt, dass die Politik seiner Partei vom Grundsatz geleitet sein müsse, Sicherheit „vor Russland“ zu organisieren. In dem Papier wird genau dies scharf kritisiert: „Der Zwang zu immer mehr Rüstung und zur Vorbereitung auf einen angeblich drohenden Krieg wird beschworen, statt notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen.“
Pistorius hat das Papier als „Realitätsverweigerung“ kritisiert, Merz stellte klar, dass für ihn die Absprachen in der Koalition entscheidend seien. Mützenich sagte zur Kritik von Pistorius: „Ich werfe doch auch keinem vor, er will Krieg führen, wenn er fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung und Rüstung ausgeben will.“ Der Mitunterzeichner Ralf Stegner, der auch Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags ist, meinte: „Über Waffen kann jeder Trottel reden, aber Diplomatie ist wahre Kunst.“ Lars Klingbeil sagte, er habe zu mehreren Aussagen des „Manifests“ explizit eine andere Meinung. Deutschland müsse sich nicht entscheiden zwischen militärischer Stärke und Ukraine-Unterstützung auf der einen sowie diplomatischen Bemühungen auf der anderen Seite. „Das ist nicht ‚entweder oder‘, sondern es sind zwei Seiten einer Medaille.“ Die SPD und auch die Gesellschaft müssten solche Debatten aushalten.