Wenn an diesem Samstagabend das Ergebnis des Mitgliederentscheids bekannt gegeben wird und nach einem halben Jahr endlich feststeht, wer künftig die Sozialdemokratie führen soll, dann ist in der SPD noch lange nichts in Ordnung. Die Führungsspitze mag formal bald wieder komplett sein. Wie viel darunter von der SPD als Ganzes nach diesem nervenaufreibenden Verfahren zur Vorsitzsuche übrig bleibt, das werden erst die kommenden Tage bis zum Parteitag zeigen. Dort entscheidet sich vom 6. Dezember an, ob die SPD als prägender Faktor in der Parteienlandschaft noch eine Zukunft für sich beansprucht.
Entweder meldet sich die SPD nach Monaten der Selbstbeschäftigung zurück - mit einem Plan und neuem Personal für die zweite Hälfte der Legislatur. Oder sie meldet sich vom Regierungsgeschäft ab. Das würde dann das Ende der großen Koalition bedeuten. Selten dürfte derart viel Verantwortung auf den Schultern der Neuen an der Spitze gelastet haben. Selten hat die Angst vor einer Spaltung der Partei so sehr in der SPD um sich gegriffen.
Zwei Wochen lang hatten die Mitglieder Zeit, sich zwischen diesen beiden Kandidatenpaaren zu entscheiden: Finanzminister Olaf Scholz, 61, tritt zusammen mit Klara Geywitz an, der 43-jährigen Politikerin aus Brandenburg. Dieses Duo steht für die Fortsetzung der großen Koalition. Es verteidigt die bisherige Politik der SPD als Erfolg, wie zuletzt die Einigung auf eine Grundrente für Geringverdiener. Zudem empfiehlt sich Scholz als Kanzlerkandidat. Eine Scholz-Geywitz-SPD hat den Willen zum Regieren.
Dagegen liebäugeln ihre Konkurrenten, Norbert Walter-Borjans, 67 Jahre alt und früherer Finanzminister aus Nordrhein-Westfalen, und die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken, 58, mit dem Ende der Koalition. Einen Kanzlerkandidaten aufzustellen halten sie mangels Erfolgsaussicht für überflüssig. Sie sehen im Bündnis mit der Union eine der Hauptursachen für den Niedergang der Partei; vor allem Saskia Esken hat innerlich damit abgeschlossen. Dieses Kandidatenpaar hat es auch dank tatkräftiger Unterstützung der Jusos in die Stichwahl geschafft. Um Juso-Chef Kevin Kühnert haben sich die Regierungsmüden und die von Olaf Scholz Enttäuschten geschart. Sie wollen den Neuanfang, ohne Scholz. Koste es, was es wolle.
Bis zuletzt taten sich Genossen schwer, eine Prognose abzugeben, welches Paar am Samstagabend vorne liegen dürfte. Keines begeistert die SPD wirklich. Sollte es Scholz werden, stellt sich die Frage, warum sich die Partei ein so aufwendiges Verfahren mit 23 Regionalkonferenzen auferlegt hat, wenn am Ende doch nur einer als Sieger hervorgeht, der die SPD an führender Stelle dorthin geführt hat, wo sie heute steht.
Sollten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken gewinnen, dürften sie umgehend die nahezu komplette Bundestagsfraktion gegen sich haben. Die Abgeordneten wollen sich ihre Arbeit nicht schlechtreden lassen, und vor allem wollen sie nicht zuschauen, wie andere ihre Politik vollenden, wenn die SPD die Groko von sich aus verlassen hat. Je knapper der Ausgang des Mitgliederentscheids, desto größer ist die Gefahr, dass das Verfahren die Partei am Ende sogar zerreißt.
Sollte dann noch die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent sinken, dürften sofort wieder Zweifel in der Partei laut werden, ob an der Spitze die Richtigen stehen. In der ersten Runde des Mitgliederentscheids hatten sich nur magere 53 Prozent der Genossen beteiligt.
Die kommissarische Parteivorsitzende Malu Dreyer hat jüngst dargelegt, dass ihre SPD "wirklich am Boden" liege. Tatsächlich hat die SPD nur noch diese Gelegenheit für einen Neustart und darf ihn nicht vermasseln. Für den Samstagabend heißt das: Es darf keine Verlierer geben.
Bei der Bundestagswahl 2017 kam die SPD nur noch auf 20,5 Prozent. Umfragen sehen die Partei bei nur noch etwa 13 Prozent, etwa das aktuelle Politbarometer vom Freitag. Sie kann es sich nicht leisten, weiter Anhänger zu verprellen.
Entsprechend klar fällt die Botschaft von Übergangschefin Malu Dreyer für diesen Samstag aus: "Die Zeit des internen Wettbewerbs ist jetzt vorbei. Die Entscheidungen sind demokratisch gefallen, das muss jeder akzeptieren", sagt Dreyer der Süddeutschen Zeitung. Sie fügt hinzu: "Was wir nach außen fordern, müssen wir nach innen leben: Solidarität. Darauf sollte nicht nur die neue Parteispitze achten, sondern alle, die in Verantwortung stehen." Die Botschaft lautet: Die Sieger mögen bitte schön als Versöhner auftreten, die Verlierer sich nicht zurückziehen; wer das gegnerische Lage ausgrenzt, schadet der SPD. "Wer unterlegen ist, bleibt ja trotzdem wichtig für uns in der SPD", sagt Dreyer.
Sollten Scholz und Klara Geywitz gewinnen, müssten sie mindestens klarmachen, dass die der Union abgerungene Grundrente nicht ein einmaliger Verhandlungserfolg war, sondern dieses selbstbewusste Auftreten zur Regel werden muss. Im Falles des Sieges von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken dürfte ein sofortiger Ausstieg aus der Koalition allein deshalb schon nicht kommen, weil die Fraktion sich dem nach Kräften widersetzen dürfte. Mit ihnen an der Spitze würde aber die Debatte ums Ende der Groko an Fahrt gewinnen und womöglich eine Eigendynamik entwickeln, die auf dem Parteitag schwer zu beherrschen sein dürfte.
Geht es nach Malu Dreyer, dann endet am Samstag eine Zeit der Ungewissheit für die SPD. "Wir haben diskutiert, hart gerungen und manchmal auch gestritten - um die richtigen Inhalte, die besten Konzepte und zuletzt um die neue Parteiführung." Sie sieht die SPD gut gerüstet für das "neue Jahrzehnt". Zuvor muss die SPD aber erst einmal ihren Parteitag überstehen - und sich mit der neuen Spitze arrangieren.