Süddeutsche Zeitung

Kühnert und der Sozialismus:Warum die SPD so dünnhäutig auf den Juso-Chef reagiert

  • Juso-Chef Kühnert zwingt die SPD in eine Sozialismus-Debatte, die diese kurz vor der Europawahl schwer aushalten kann.
  • Er berührt einen wunden Punkt: Bis in die Parteispitze fragt man sich bisweilen, wie lange der "Establishment-Konsens" in der Groko noch gut geht.
  • Parteichefin Nahles und Vizekanzler Scholz sehen ein weiteres Problem: Wenn die Leute nicht glauben, dass kommt, was die SPD verspricht, kann die Partei einpacken.

Von Susanne Höll, Saarbrücken, und Mike Szymanski, Berlin

Beim Parteinachwuchs der SPD, den Jusos, bleibt kaum einer ohne Sünde. Parteichefin Andrea Nahles hat in ihrer Zeit als Juso-Chefin in den Neunzigerjahren für die Ausbildungsumlage gekämpft. Ihr Slogan: "Wer nicht ausbildet, wird umgelegt." Das war provokant. Das Problem war aber das Flugblatt. Es zeigte eine Pistole. Franz Müntefering, damals Bundesgeschäftsführer, kassierte es ein.

Heute ist das eine Anekdote, über die sie lachen kann. Das geht ihr weniger so mit dem Vorstoß von Kevin Kühnert, dem heutigen Juso-Chef. Der 29-Jährige hat sich in einem Zeit-Interview für "eine Kollektivierung großer Unternehmen" ausgesprochen, also für eine Vergesellschaftung, als Beispiel nannte er BMW. Auch Wohneigentum will er begrenzen. Die Empörung fiel größer aus, als zu erwarten gewesen wäre, denn für die Jusos gilt seit jeher: jung & sozialistisch. "Ich könnte Ihnen eine längere Liste von Vorschlägen machen, die sich auch nicht als sinnvoll erwiesen haben", berichtet Vizekanzler Olaf Scholz aus seiner Juso-Zeit.

Und BMW-Betriebsratschef Manfred Schoch weist Kühnerts Ideen harsch zurück: "Für Arbeiter deutscher Unternehmen ist diese SPD nicht mehr wählbar", sagte er der Wirtschaftswoche.

Kühnert zwingt seine Partei in eine Sozialismus-Debatte, die diese kurz vor der Europawahl schwer aushalten kann. Die SPD ist dünnhäutig und nervös. Nahles hatte deshalb gehofft, die Debatte würde schnell ein Ende finden. Aber das tut sie nicht. "Ich habe das sehr ernst gemeint", legte Kühnert am Freitag im Spiegel nach. Wie sehr die SPD das beschäftigt, ist am selben Tag zunächst in Leipzig zu besichtigen, wo Nahles nach einer Klausur mit Fraktionschef-Kollegen aus den Ländern auftritt, und am Nachmittag in Saarbrücken, wo die SPD in die Hochphase des Europawahlkampfes startet. In Leipzig sagt Nahles über Kühnert: "Ich finde die Antworten, die er gibt, falsch." Später, in Saarbrücken, teilen sie und Kühnert sich gemeinsam mit anderen Parteigranden eine Bühne. Dort aber ist das Thema der Stunde kein Thema, niemand spricht über Kühnerts Vorstoß.

Jenseits der Bühne tun das umso mehr, ein prominenter Genosse attestiert Kühnert einen "Egotrip".

Es steht die Frage im Raum: Wie links will die SPD wirklich sein? Wenn die Partei eine Lehre aus den Niederlagen für sich gezogen hat, dann jene: Die SPD geht aus großen Koalitionen geschwächt hervor. Die Konturen verschwinden. "Gutes Regieren", wie es Nahles und Scholz beschwören, ist das eine. Dazu gehören Kompromisse. Nur: Bis in die Parteispitze fragt man sich bisweilen, wie lange das eben noch gutgehen kann, ständig "Establishment-Konsense" einzugehen. Seit Nahles an der SPD-Spitze steht, versucht sie, das Profil zu schärfen. Sie hat ein neues Sozialstaatskonzept vorgelegt, das Korrekturen an Hartz-IV vornimmt. Die SPD tut viel für Familien. Sie stärkt die Bedürftigen. Ungleichheiten könnten nur "durch konkretes politisches Handeln abgebaut" werden, sagt Nahles.

Kühnert beschreibt das, was die Jusos immer schon wollten. Aber er steht für sehr viel mehr als nur für den Parteinachwuchs. In seiner Person verkörpert sich all die Unzufriedenheit über die große Koalition. Der 29-Jährige war der Wortführer der No-Groko-Bewegung, die verhindern wollte, dass die SPD sich abermals in einer großen Koalition wiederfindet. Er war ein Gegenspieler von Nahles und jetzt ist er es wieder: Kühnert will eine andere Politik.

Das geht anderen in der SPD wie Boris Pistorius, Innenminister in Niedersachsen, zu weit: Kühnerts Position sei "nicht ansatzweise" die der SPD. Prompt überschattet die Sozialismus-Debatte den Start in den Europawahlkampf. Dabei hat die SPD in Justizministerin Katarina Barley eine Spitzenkandidatin gefunden, die gut ankommt. Programmatisch tritt sie für ein sozialeres Europa ein, für mehr Steuergerechtigkeit und Mindestlöhne. Im Lager der Wahlkämpfer ist der Ärger über den Juso-Chef groß. Kühnert verhalte sich "unsolidarisch", heißt es dort. Kühnert trifft aber durchaus einen Nerv mit seinem Vorstoß. Wer in Ballungsräumen leben will oder muss, spürt, wie schwer es geworden ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Das ist der Raum, in dem Akzeptanz für weiterreichende Forderungen wächst. Dies zeigt die Debatte um Enteignungen von Wohnungskonzernen in Berlin.

Das Problem der SPD ist ein anderes. Nahles und Scholz sind überzeugt: Wenn die Leute nicht glauben, dass kommt, was die SPD verspricht, kann die SPD einpacken. Sie redet jetzt schon wieder - angestoßen durch Kühnert - über Dinge, die sie sowieso nicht umsetzt.

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SZ vom 04.05.2019/jsa
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