Parteitag in Berlin:Schlichten statt revoltieren

Social Democratic Party (SPD) meeting in Berlin

Geschafft: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken nach ihrer Wahl zum Spitzenduo.

(Foto: FABRIZIO BENSCH/REUTERS)

Die neuen Chefs haben bei den Mitgliedern große Erwartungen geweckt. Aber wie wollen Esken und Walter-Borjans die Wünsche bei der Union durchsetzen? Beiden fällt es da schwer, konkret zu werden.

Von Mike Szymanski, Berlin

Es ist Norbert Walter-Borjans, der die Hand reicht. Er will sich seine Wahl und die seiner Partnerin Saskia Esken nicht trüben lassen. Nicht hier, nicht jetzt, auf den letzten Metern. "In die neue Zeit" steht in übergroßen Buchstaben auf der weißen Bühnenwand in seinem Rücken. Es ist jetzt nicht mehr weit, bis diese anbrechen soll. Es steht viel auf dem Spiel.

"Wir sind die Partei der vielen", sagt Norbert Walter-Borjans. Und er sagt diesen einen Satz: "Nur Einigkeit macht stark." Eine Plattitüde sonst. Aber das gilt nicht für die SPD, die Walter-Borjans an diesem Nachmittag offiziell per Wahl mit Saskia Esken übernehmen will. Nur, diese Partei ringt noch mit sich. Deshalb macht Walter-Borjans jetzt dieses Angebot. Um des lieben Friedens willen. In der Spitze seiner neuen SPD ist auch Platz für jene, die ihn nicht an der Spitze haben wollten.

Das Problem zu dieser Stunde ist noch folgendes: An der Spitze der SPD haben jetzt mit Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken zwei Politiker das Sagen, die auch bereit sind, die SPD aus der Regierungskoalition herauszuführen. An diesem Freitag stehen aber auch noch die Wahlen der Stellvertreter an. Es soll drei Vizes geben. Zwei Plätze sind quasi schon vergeben: Klara Geywitz, die sich an der Seite von Olaf Scholz um die Parteiführung beworben hat, gilt als gesetzt. Ebenso Anke Rehlinger, Chefin der Saar-SPD. Aber für den dritten Platz lief es auf eine Kampfkandidatur hinaus: Arbeitsminister Hubertus Heil, Verfechter dieser Koalition, wollte gegen Juso-Chef Kevin Kühnert antreten, der mit seinen Truppen geholfen hat, Walter-Borjans und Esken an die Spitze zu hieven. Aufgeben will niemand. Soll der Neustart der SPD gleich wieder mit Kampf, mit Siegern und Verlierern beginnen?

Walter-Borjans und Esken suchen nach einer Lösung. Und jetzt, gegen Mittag, ist der Zeitpunkt im bunkerähnlichen Berliner Tagungssaal gekommen, mit großer Geste die Lager zusammenzuführen. Der neue Vorstand soll nicht wie geplant drei Stellvertreter bekommen. Walter-Borjans schlägt vor, fünf Vizes zu benennen. Für Kühnert und Heil soll Platz sein. Und er schlägt vor, zusätzlich auch die Parteilinke Serpil Midyatli an die Spitze zu berufen.

Walter-Borjans und Saskia Esken mögen diejenigen SPD-Chefs sein, die am wenigsten Regierungs- und Wahlkampferfahrung für diesen Job mitbringen. Aber sie lernen schnell, wie an der Spitze der Partei solche Probleme gelöst werden. Heil wird später eine eindrucksvolle Rede halten. Es wäre "idiotisch", aus der Koalition herauszugehen, ohne Projekte wie die Grundrente umgesetzt zu haben, sagt er. Da will einer noch lange nicht aufhören in seinem Ministerium. Er bekommt viel Beifall. Und in diesem Moment wird klar, dass eine Kampfabstimmung nur noch tiefere Wunden hinterlassen dürfte. Ein bisschen lebt die alte SPD in der neuen Zeit noch weiter, auch wenn Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken nach Kräften dagegen anarbeiten. Und Kühnert hilft: Er vertraue den beiden voll und ganz. Sie wüssten, dass sie dafür gewählt worden seien, damit es kein Weiter-so gebe.

Wer Walter-Borjans und Esken nur aus den Regionalkonferenzen kannte, war vor allem gespannt, wie sie sich schlagen, wenn sie mal mehr als zusammen nur fünf Minuten Zeit haben, um sich und ihren Plan für die SPD vorzustellen. Walter-Borjans ist den Auftritt auf größerer Bühne gewohnt. Er war von 2010 bis 2017 Landesfinanzminister in Nordrhein-Westfalen. Aber Saskia Esken hatte abgesehen von Auftritten im Bundestag, dem sie seit 2013 angehört, eine solche Bühne nie gehabt. Mehr als 600 Genossen sitzen nun in der Halle vor ihnen. Es dürften die wichtigsten Reden im Leben der beiden Politiker sein.

Esken hat keine freundlichen Worte für Scholz übrig

Die Parteitagsregie und disziplinierte Abgeordnete meinen es heute gut mit ihnen. Es ist - wie geplant - auf die Minute genau 12 Uhr, als der Tagesordnungspunkt Vorsitzwahl aufgerufen wird. Einen Augenblick später betritt Saskia Esken das Rednerpult. Es wird still im Raum.

Esken ist von beiden Politikern diejenige, die den härteren Schnitt mit der Vergangenheit will. Ein Mann in der ersten Reihe hat das schon ganz brutal zu spüren bekommen: Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz. Im Interview mit der SZ hatte sie ihn wissen lassen, Scholz müsse "künftig noch mehr davon" umsetzen, "was die Partei will". So fühlt sich die neue Zeit für Scholz an. Freundliche Worte hat Esken für den unterlegenen Konkurrenten um den Parteivorsitz in ihrer Bewerbungsrede nicht übrig.

Wer ist die Frau, die jetzt neben Walter-Borjans die SPD führen will? Sie stellt sich vor: Politisiert hatte sie als Elfjährige das Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt. Damals habe sie Radiosendungen darüber auf Kassetten aufgenommen. Sie kommt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus in Baden-Württemberg, machte Abitur, jobbte als Paketbotin, Chauffeurin und als Thekenkraft.

Sie bekam drei Kinder und bildete sich zur staatlich geprüften Informatikerin fort. Heute ist sie mit ihren 58 Jahren in der Fraktion eine Expertin, die den Jüngeren erklärt, wie die digitale Welt funktioniert. Sie sagt, sie kenne das Leben "von unten". Und: "Ich stehe wegen meines Lebensweges vor euch." Die Politik der SPD habe ihr ermöglicht, überhaupt erst an die Spitze der Partei rücken zu können. Es ist ihre eigene Geschichte, aus der sie ihre Politik ableitet. Sie habe damals als Paketbotin Tariflohn bekommen. Heute würden die Fahrer ausgebeutet. Dass es so kommen konnte, dafür gibt sie ihrer SPD eine Mitschuld. Die SPD habe dazu beigetragen, dass in Deutschland ein solcher Niedriglohnsektor entstanden sei.

Ein schnelles Ende der großen Koalition fordert sie nicht

"Wenn ihr das wollt", sagt sie, werde sie als neue Chefin ihr "ganzes Herzblut" dafür geben, diesen Niedriglohnsektor auszutrocknen. Hartz IV ist für sie dagegen schon Geschichte, dank des Sozialstaatskonzepts, das ihre Vorgängerin Andrea Nahles noch erarbeitet hatte und das auf diesem Parteitag beschlossen werden soll. "Danke, Andrea", sagt sie. "Wir schließen ein für alle Mal ein viel zu langes Kapitel", sagt sie. Zack, fertig.

Was dieser Stil für die große Koalition bedeutet? Muss sich zeigen. Gegen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die die Grundrente erst dann umsetzen möchte, wenn sich die SPD zur Koalition bekannt hat, teilt sie schon mal aus. "Respektlos" sei dieses Vorgehen. Sie sagt, "sie war und ist skeptisch", was die Fortsetzung der großen Koalition angehe. Nur: Ein schnelles Ende fordert sie nicht. Das würde auch die Fraktion so nicht mittragen und auch nicht die Minister, die in ihren Reden klarmachen, dass nicht alles schlecht sei. Sogar Scholz müht sich am Nachmittag noch einmal ans Pult: "Niemand anderes außer uns steht für Fairness und Gerechtigkeit."

Nur deshalb ist auch der Leitantrag genau so ausgefallen, dass die Union ihn nicht als Kündigungsschreiben auffassen kann. "Mit diesem Leitantrag geben wir der Koalition eine realistische Chance auf eine Fortsetzung", sagt Esken. Dafür bekommt sie auffallend wenig Applaus. Im parteiinternen Wahlkampf war sie viel entschlossener, das haben viele hier offenbar nicht vergessen. Von 40 Euro Einstiegspreis je Tonne CO₂ ist heute bei ihr auch nicht mehr ausdrücklich die Rede. Ihren starken Moment, angekommen beim Klimaschutz, hat sie mit den Worten: "Es gibt keinen Planeten B." Im Moment gibt es jedoch auch keinen konkreten Plan der Neuen für die große Koalition, als dass jetzt noch mal geredet werden soll. Esken redet 25 Minuten. "Vor jedem Aufbruch steht der Mut, Neues zu wagen", sagt sie. Und dann holt sie ihren Partner auf die Bühne.

"Norbert, komm zu mir!", sagt sie.

Die Delegierten stehen jetzt, applaudieren Esken. Als wollten sie jetzt auch unbedingt, dass die "neue Zeit" anfängt. Aber Moment mal. Erst mal ist Norbert Walter-Borjans an der Reihe. So ist das mit einer Doppelspitze. Walter-Borjans ist 67 Jahre alt. Im Sommer war er noch ein Ruheständler, der mit seinem Buch über seine Zeit als Landesfinanzminister unterwegs war. Er hatte Steuer-CDs mit Daten potenzieller Steuerbetrüger aufgekauft und Milliarden damit erlöst. Er hatte eine gute Geschichte zu erzählen. Jetzt steht er auf dieser Bühne, vor Delegierten einer Partei, die in Umfragen nur noch auf 13 oder 14 Prozent kommt. Und jetzt braucht er auch eine gute Geschichte.

"Hört ihr die Signale?"

Walter-Borjans hat offengelassen, wie es mit der Koalition weitergeht. Aber es haben ihn Genossen gewählt, die klar die Erwartung haben, dass diese neue Spitze rausgeht. Walter-Borjans schlägt jetzt erst mal den ganz großen Bogen. Über den Frieden in Europa, an dem die SPD mitgearbeitet hat. Er macht das jetzt sehr geschickt. Es setzt sich so behutsam in seinen Ausführungen vom Koalitionspartner ab, dass den Genossen ganz wohlig wird. Er sagt andererseits nichts, was umgehend das Groko-Aus bedeuten müsste. Er will bei der Bundeswehr allenfalls in Ausrüstung investieren, nicht in Aufrüstung. Er will eine starke EU, um sich nicht von globalen Internetunternehmen an der Nase herumführen zu lassen. In der Finanzpolitik setzt er sich ab, von der Union und vom Parteikollegen Scholz. Die schwarze Null und die Schuldenbremse sollen fallen - wann? So konkret wird der nicht. Er ist auch bereit, Kompromisse mit der Union einzugehen, nur dürften sie nicht "verwischen", wofür die SPD steht. Und den Regierungswilligen in seiner Partei gibt er mit auf den Weg, dass die Parteispitze es sich jetzt durchaus herausnehme, eigene Akzente zu setzen. Die neue Zeit. "Hört ihr die Signale?", fragt Saskia Esken.

Der Moment der Wahrheit kommt gegen 15 Uhr. Das Ergebnis der Vorsitzwahl liegt vor: Esken kommt auf 75,9 Prozent der Stimmen. Das ist so lala. Der wirkliche Jubel kommt bei Walter-Borjans auf. 89,2 Prozent für ihn. Gut möglich, dass sich seine Friedensinitiative für die Stellvertreterwahl schon ausgezahlt hat. Man könnte auch sagen: ein guter Anfang. So setzt sich der Tag fort. Am Abend kommt es so, wie die Neuen es wollen. In der Stellvertreterriege ist jetzt Platz für fünf. Heil und Kühnert legen sich in ihren Reden richtig ins Zeug. Kühnert redet schon so, als ginge es bei seiner Bewerbung um einen dritten Chefposten neben Esken und Walter-Borjans. Aber so weit ist es in der SPD noch nicht gekommen. Der Saal jubelt. Und Verlierer? Will niemand.

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