SPD-Parteitag:Die Häutung des Martin Schulz

Er ist kein rhetorischer Künstler und kein Meister der Attacke. Aber der SPD-Chef zeigt auf dem Parteitag wie noch nie, was ihn im Innersten antreibt. Daraus wird ein großer Auftritt - egal, wie der Parteitag endet.

Von Stefan Braun, Berlin

Als es vorbei ist, folgt der sofortige Abgang. Nichts wie weg, fast sieht es so aus, als wolle der Mann einfach abtreten. Da redet Martin Schulz mehr als 75 Minuten, und am Ende verzichtet er ausgerechnet auf das, was nach so einem Kraftakt das Schönste sein könnte: das Bad im Beifall. Das Rednerpult steht in der Mitte; der Parteichef könnte jetzt den Applaus genießen.

Stattdessen eilt der Vorsitzende zurück auf seinen Platz, klatscht wie all die anderen, reiht sich ein, will nichts Besonderes sein. Vielleicht ist das einfach nur geschickt, aber in diesem Moment wirkt der Mann ehrlich bescheiden. Und als die vielen anderen im Saal nach Minuten immer noch nicht aufhören möchten, geht Schulz noch mal hoch ans Mikrofon und bewegt seine Hände so demonstrativ nach unten, dass auch der letzte kapiert, der Applaus möge jetzt enden. Schulz will nichts mehr wissen vom Feiern.

Das ist ungewöhnlich. Und es ist nicht die einzige Überraschung. Denn wo andere auf große Krisen mit großem Lärm reagieren, beginnt Schulz seine Rede mit einem Gang in den Keller. Ganz tief runter in die düsteren Zeiten der vergangenen Wochen. "Ich habe schon manches Auf und Ab in meinem Leben hinter mir", sagt Schulz mit fast zittriger Stimme. "Aber so ein Jahr kann man nicht einfach abschütteln." So was stecke in den Knochen, gerade weil er wisse, wie enttäuscht und wütend viele Menschen seien, die große Hoffnungen in ihn und die SPD gesetzt hätten. Er könne die Uhr nicht zurückdrehen, er trage als Kanzlerkandidat die Verantwortung für das Ergebnis. "Bei all diesen Menschen bitte ich für meinen Anteil an der Niederlage um Entschuldigung."

Man ahnt, wie schwer die Niederlage auf Schulz lastete

Das ist kein rhetorischer Renner, es treibt die Leute nicht auf die Stühle. Es holt den Schmerz hervor, den alle hier am liebsten sofort vergessen würden. Mancher Beobachter schüttelt jetzt den Kopf. Wie kann einer sich nur so klein machen. Aber Schulz ist Schulz an diesem Tag, und das wird sich auch nicht mehr ändern.

Denn jetzt ahnt man, wie schwer die Niederlage auf ihm lastete und wie tief sie ihn runterzog, als am 24. September das Wahlergebnis deutlich wurde. Will man also heute verstehen, warum er lange Tage so schwermütig wirkte, dann liefert er dafür an diesem ersten Tag des Parteitreffens die Begründung.

Für Schulz, so hat es kurz zuvor der alte Sozialdemokrat Gert Weisskirchen ausgedrückt, ist mit dieser Rede die entscheidende Stunde angebrochen. Der Augenblick, an dem alles zusammenkommt, die Niederlage bei der Wahl, das Nein zur großen Koalition danach und jetzt der Wechsel hin zu Gesprächen, eine solche vielleicht doch noch einmal zu versuchen. "Jetzt ist der Moment gekommen", sagt Weisskirchen. Und der frühere Bundestagsabgeordnete meint damit nicht nur die Trauerarbeit; er meint auch die künftige Richtung.

Schulz wird darauf zurückkommen. Zunächst aber liest er sich und der ganzen Partei die Leviten. Erinnert daran, dass die SPD seit fast 20 Jahren Wahlen verloren habe, dass ihr verglichen mit 1998 fast zehn Millionen Menschen weniger die Stimme gegeben hätten. "Wir haben es nicht geschafft, einen Gesamtentwurf für die Zukunft unseres Landes zu entwickeln", klagt der Parteichef. "Unser Problem ist, dass wir unser klares Profil verloren haben."

Und nicht nur das, Schulz rechnet beinahe mit allem ab, was aus seiner Sicht seit Jahren schiefläuft. In der Politik insgesamt, aber auch bei den Sozialdemokraten. Die Tricksereien, die Intrigen, diejenigen, die zuallererst die eigene Macht sichern wollten. Das alles müsse aufhören, sagt Schulz. Politik dürfe nicht als reiner Machtkampf betrachtet werden. "Das zerstört das Politische. Es zerstört auch die Sozialdemokratie." Es ist keine Warnung, Schulz will damit niemandem drohen. Er will aussprechen, was ihn seit Monaten, unvorsichtig ausgedrückt, ankotzt.

Schulz wendet sich auch an die auf der Straße

Dabei wird auch klar, dass er sich mit alldem nicht nur an die eigenen Leute richtet, sondern auch an die auf der Straße. Diejenigen, die sich abwenden; diejenigen, die deshalb zuletzt AfD gewählt haben. Auch hier wird der Mann, der politisch mit dem Rücken zur Wand steht, deutlich: "Unser Problem ist, dass viele Menschen uns nicht mehr als Teil von ihnen, als Vertreter ihrer Anliegen ansehen." Er habe oft gehört: Ihr da in Brüssel; ihr da in Berlin; ihr da oben, ihr interessiert euch doch gar nicht für mich. Dieser Vertrauensverlust treffe zwar alle Parteien. Aber die Sozialdemokratie treffe das ganz besonders, "weil wir eben nicht die Elite oder die abgehobene Oberschicht sind, sondern die sozialdemokratische Bewegung".

Ob das wirklich so ist, wieder so ist, kann Schulz nicht belegen. Aber an dieser Stelle wechselt er nach knapp einer halben Stunde die Perspektive. Vom Rückblick und den Schmerzen der vergangenen Wochen kehrt er zurück zur Frage, wer und was die SPD sein soll.

Dabei wird nun, im zweiten Teil dieses Auftritts, eines deutlich: Aus dem Gemischtwarenhändler des Wahlkampfs soll ein Parteichef mit Zielen werden. Zuallererst denen in Europa. Im Wahl-Duell mit der Kanzlerin hatte er noch darauf verzichtet, an diesem Donnerstag aber schwärmt er mehr denn je vom Traum der Vereinigten Staaten von Europa. Er redet nicht drum herum, er will das erreichen. Er möchte das, was die SPD im Grunde genommen seit 1925 anstrebt. Nicht ein Europa der Banken, des Lohndumpings oder der autokratischen Staatschefs, sondern "ein Europa, das seine Probleme solidarisch bewältigt".

Nichts spart Schulz aus, um seiner Partei die neu anzunehmende Rolle klarzumachen

Bemerkenswert ist dabei nicht nur das klare Ziel, sondern auch die Konsequenz, mit der er es anstrebt. Ein neuer Verfassungsvertrag soll her, einer, der die Missstände verhindert. Einer, über den hinterher alle Mitgliedsstaaten abstimmen. Und wer das nicht mittragen könne, werde die EU automatisch verlassen. Man kann das naiv nennen oder halsbrecherisch. Aber den Vorwurf des Unkonkreten kann man Schulz hier nicht mehr machen.

So wie er wenig später seine Partei erinnert, dass man sich der Umwelt endlich umfassend annehmen müsse. Wie er sich dem Klimawandel zuwendet und der wichtigsten Konsequenz: dem Ende der Kohleverstromung. Spätestens an der Stelle dürften die Grünen seine Rede aufmerksam verfolgen. Anders als im Wahlkampf spricht Schulz in Berlin plötzlich davon, dass die SPD die Partei für den Strukturwandel in der Lausitz sein müsse. Leiharbeit, befristete Verträge, Schattenseiten der Digitalisierung - nichts spart Schulz aus, um seiner Partei die neu anzunehmende Rolle klarzumachen. Beifall gibt es dafür nicht immer. Aber es gibt ihn dort, wo Schulz konkret wird: für Europa, für das Klima und gegen die "Zusammenhaltszerstörer" der AfD.

Was bedeutet das für mögliche Koalitionsverhandlungen? Ganz wenig und ganz viel. Schulz nämlich zieht nicht mit großer Geste rote Linien für die Treffen mit Angela Merkel. Er definiert die großen Ziele und Aufgaben der Sozialdemokraten. Und macht auf diese Weise deutlich, was für die SPD entscheidend sein wird: Ob Berlin in der EU eine egoistische oder solidarische Rolle spielen möchte. Ob eine neue Bundesregierung soziale Verwerfungen abbauen will oder weitermachen möchte wie bisher. Ob sie an einer grundsätzlich solidarischen Flüchtlingspolitik festhält oder sie beendet. Programmatisch ist an dieser Stelle nur ein einziger Satz, für den er viel Beifall erntet: "Ein Recht auf Schutz vor Krieg und Vertreibung kennt keine Obergrenze."

Ab da ist klar, dass Schulz zu seinem größten Problem, dem Kurswechsel in der Frage von Sondierungsgesprächen, so viel gar nicht mehr sagen möchte. "Ergebnisoffen" - das ist seine Zauberformel. "Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen. Entscheidend ist, was wir durchsetzen können."

Es ist eine erstaunliche Rede. Freunde des harschen Schlagabtausches bekommen fast nichts geboten. Keine Attacke gegen Merkel; zwei halbe Attacken gegen den gestrengen Sparminister Wolfgang Schäuble und den Partei-Egoisten Christian Lindner. Ansonsten redet Schulz nur über sich und die eigenen Leute. Das ist mutig. Ein Sigmar Gabriel hätte hier mit Seitenhieben die Temperatur im Saal hochgetrieben; ein Martin Schulz will (oder kann) nicht auf diese Weise Punkte sammeln. Er ist kein Stoiber und kein Strauß, kein Schröder und kein Herbert Wehner.

Stattdessen erinnert er die eigenen Leute daran, wie alles anfing: Mit dem Gefühl, dass man gemeinsam mehr erreicht als alleine. Damals, als sich die ersten Arbeiter zusammengeschlossen haben. Angela Merkel hat auch einmal eine solche Parteirede gehalten. Im Herbst 2004, und ihre Lage war ähnlich. Sie sprach über sich und die Wurzeln der Christdemokraten. Viel Nachdenklichkeit statt billiger Punkte. Ein Jahr später ist sie Bundeskanzlerin geworden.

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