Ein merkwürdiger Wahrnehmungsteppich hat sich über die Republik gelegt. Wo früher Zufriedenheit und Zuversicht dominierten, sind nun Verunsicherung und Angst zu registrieren. Das Unterfutter der Gesellschaft hat sich verändert. Es ist nicht mehr jener Parteienstaat von vor 20 oder 30 Jahren.
Die Megathemen bleiben ohne Antwort. Die Suche nach zuverlässigen Daten und Hinweisen zu Gegenwart und Zukunft des deutschen Parteienstaates bewegt sich durch eine lange Allee von Fragezeichen. Bei der Frage nach dem Schicksal der Volksparteien fällt der Blick besonders auf die Zukunft der traditionsreichsten, ältesten Partei: Wird die SPD trotz ihres aktuellen Niedergangs noch überleben?
Die Entwicklungslinie der SPD-Wahlergebnisse zeigt drastisch nach unten: Die SPD gewann früher etliche Male bei Bundestagswahlen mehr als 40 Prozent der Stimmen, zuletzt 2017 nur noch 20,5 Prozent; in den Umfragen waren es schon weniger als 15, doch derzeit geht es nach oben. Die besorgte Frage, ob die SPD zu retten ist, wird nicht nur von traditionellen Anhängern gestellt. Mit der Überlebensfrage der SPD wird die Zukunftsfähigkeit des bisherigen Parteienstaates aufgerufen.
Auf der Suche nach einer substanziellen Antwort erhält der Leser nun interessantes Material. Das Buch "Zwischen Selbstaufgabe und Selbstfindung. Wo steht die SPD?" ist von zwei Autoren geschrieben, die eigentlich eine angemessene Antwort wissen müssten: Gerd Mielke und Fedor Ruhose sind sowohl kundige Analytiker als auch SPD-Insider.
Einstieg ohne jede Schönfärberei
Gerd Mielke ist politikwissenschaftlicher Honorarprofessor an der Universität Mainz, bekannter Parteienforscher und er war zugleich unter den Ministerpräsidenten Rudolf Scharping und Kurt Beck langjähriger leitender Mitarbeiter in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Fedor Ruhose war Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz und ist nun Staatssekretär in der Landesregierung.
Das Buch steigt in die Thematik mit aller Härte ein, ohne jede Schönfärberei. Es attestiert der SPD breite Glaubwürdigkeitslücken, geringen Zuspruch, chronische organisatorische Schwächen. Es handele sich um eine Partei ohne überzeugendes Narrativ.
Und zugleich sind die beiden Autoren überzeugt, dass ohne das Politikmodell der Sozialdemokratie Deutschland und Europa die Zukunftsfähigkeit verlieren werden. Der intellektuellen und politischen Auszehrung muss die SPD aus der Sicht der Autoren mit einer "Re-Sozialdemokratisierung" begegnen.
In der Beschreibung wird klar herausgearbeitet, dass die SPD immer große "Kultivierungsleistungen" erbrachte - bis zuletzt 1998 und 2002: "Seither gibt die SPD nicht mehr zu erkennen, für wen sie Politik machen will." Die Autoren geben durchaus plausibel sieben Fehlentwicklungen der Partei als Gründe für den fatalen Niedergang an: die falschen Gerechtigkeitsvorstellungen, die Glaubwürdigkeitslücke, das Personalangebot, die Entfremdung, die Organisationsprobleme, die Misere in Ostdeutschland, die SPD außerhalb ihres eigenen Feldes.
Drei existenzielle Herausforderungen
Kritische Gesellschaftsanalysen bleiben meist bei dem Punkt eines Problembefundes stehen - nicht so dieses Buch: Die Autoren beschreiben den Weg der SPD zurück zur Hegemonie als Partei der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Dazu soll die Partei das politische Gespräch wiederentdecken, ihre Sprache entstauben.
Trotzdem halten die Autoren mit Bedauern fest, dass es der neue Parteiführung nicht gelungen ist, einen Stimmungsumschwung herbeizuführen. Und bei aller Präzision der Defizitanalyse wird der Leser dann doch bei der entscheidenden Frage nach der spezifischen inhaltlichen Zukunftsstrategie, nach dem präzisen gesellschaftlichen Zukunftsbild, nach den dafür notwendigen genauen strategischen Problemlösungsschritten allein gelassen.
Drei existenzielle Herausforderungen verlangen eben gleichzeitig auch genaue Antworten: Die Pandemie-Krisen werden zu weitreichenden Veränderungen der Gesundheitsorganisationen führen müssen. Die Umwelt-Krisen, verbunden mit den Unwetter-Katastrophen, verlangen nach entsprechenden Korrekturen und Vorbereitungen. Die Digitalisierungen und die damit verbundenen Verluste der Symbolsprache sind mit neuen Kommunikationsformen zu beantworten - und alles das fordert neue ökonomische Entwürfe.
Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand: Die SPD muss doch die dramatisch angewachsene Zukunftsangst in der Gesellschaft durch ein präzises Zukunftsbild aushebeln. Aber vielleicht machen sich die beiden Autoren demnächst an diese Arbeit. Zuzutrauen ist es ihnen.
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Vizepräsident des Cyber-Sicherheitsrats Deutschland (Berlin).