Süddeutsche Zeitung

Wahlkampf:Warum die SPD im Osten eine Renaissance erlebt

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Kurz vor der Wahl wenden sich auch die Bürger in den neueren Bundesländern der Sozialdemokratie zu. Das könnte die Machtverteilung bundesweit beeinflussen.

Von Cerstin Gammelin und Jens Schneider, Berlin

Donnerstagmittag in Erfurt, der Domplatz liegt in frühherbstlicher Sonne, Menschen spazieren an restaurierten Fachwerkhäusern vorbei. Manche bleiben stehen vor diesem Mann mit der Sonnenbrille, der auf einem knallroten Würfel mit der Aufschrift "SPD" sitzt: Was er denn so anbieten könne? Carsten Schneider steht dann auf, zieht Flyer aus der roten Tasche neben dem Würfel und erklärt sein politisches Programm. So gehe es jetzt fast ununterbrochen, erzählt er aufgeräumt im Telefonat und zeigt die Szenerie, in der er sich da befindet, mit seiner Smartphone-Kamera.

"Das letzte Mal, dass ich so was erlebt habe, dass die Leute kommen und mir die Sachen aus der Hand nehmen, das war 2004, 2005", sagt Schneider. Seit Anfang August sei es wieder so. Und wenn nichts mehr dazwischenkommt, wird sich die überraschend gedrehte Stimmung am Sonntag positiv für ihn manifestieren: Schneider ist auf bestem Weg, seinen Wahlkreis Erfurt Weimar zu gewinnen.

Zwei Tage vor dem Wahlsonntag mehren sich die Anzeichen, dass die SPD bei dieser Bundestagswahl im Osten eine Renaissance erleben wird, wie sie der Partei noch vor Monaten niemand zugetraut hätte - auch sie selbst nicht. Nach der Regierungszeit von SPD-Kanzler Gerhard Schröder waren die Sozialdemokraten dort abgestürzt, wurden in manchen Regionen einstellig, Ortsvereine stellten die Arbeit ein.

Am Sonntag aber könnten sie zur Nummer eins zwischen Schwerin und Erfurt werden, "kommend von Platz 4, zur stärksten Kraft", wie es in einer Analyse des Berliner Thinktanks Progressives Zentrum heißt. Vorgelegt haben sie der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder und der frühere Chef der Staatskanzlei in Brandenburg, Thomas Kralinski (SPD). Am Ende könnte wegen besonders stark ausschlagender Wählerbewegungen wie schon bei früheren Bundestagswahlen das Ergebnis im Osten sogar entscheidend für die künftigen Machtverhältnisse in Deutschland sein.

Der "Ostwind" könnte für ganz Deutschland stehen

Der mögliche Umschwung hat viel mit Veränderungen bei den anderen Parteien zu tun, vor allem mit der Schwäche der CDU. Davon könnte neben der AfD, die ein starkes Ergebnis im Osten erwarten kann, die SPD profitieren. Auch Wahlkämpfer Carsten Schneider hat beobachtet, dass seine neuen Sympathisanten vor allem aus zwei Lagern kommen: Es sind bisherige Linkspartei-Wähler und solche, die wegen der Ostdeutschen Angela Merkel bisher CDU gewählt hatten.

Noch 2013 und 2017 gewann die SPD nur jeweils ein einziges Direktmandat im Osten. Diesmal könne sie damit in allen ostdeutschen Ländern rechnen, heißt es in der Thinktank-Studie, die den Titel "Der Osten wählt anders" trägt. In Thüringen kommt die SPD derzeit auf 21 Prozent. In Sachsen, wo sie besonders schwach war, lag sie unlängst bei 18 Prozent. Zwar könne die AfD dort erneut stärkste Kraft werden, ihr Wachstum aber "scheint beendet zu sein", schreiben die Autoren. Es zeichne sich ab, dass der "Ostwind" für die Dynamik des gesamtdeutschen Parteiensystems besonders relevant ist.

Der Soziologieprofessor Steffen Mau von der Humboldt-Universität in Berlin findet, die SPD habe mit der Programmparole "Respekt" geschickt den ostdeutschen Nerv getroffen. "Respekt vor der Lebensleistung, das ist ja seit der Wiedervereinigung ein großes Thema", sagt Mau. Für viele Ostdeutsche komme auch der Kanzlerkandidat glaubwürdig rüber. Olaf Scholz punkte "mit seiner bodenständigen, nüchternen Art". Sein Versprechen, nur moderate politische Veränderungen vorzunehmen, "passt zu bestimmten Stimmungen in Ostdeutschland". Wer erschöpft von Veränderungen sei, möchte keine Zumutungen mehr und keine neuen Unsicherheiten.

Im Osten sei registriert worden, dass Scholz im ersten Triell als Einziger auf eine Ost-Frage eine konkrete Antwort hatte. "Er hat die Elitenfrage angesprochen, dass es zu wenige Führungspositionen gibt, die mit Ostdeutschen besetzt sind." Politische Alternativen zu Scholz kämen nicht an. "Ein rheinischer Katholik mit diesem Singsang, der ist sprachlich und habituell eher von den Ostdeutschen entfernt." Annalena Baerbock habe "es nicht geschafft, über das eigene Milieu eine Attraktivität auszulösen, die einfache Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einschließt".

Schwesig und Scholz kommen gut an

Der mögliche Umschwung für die SPD im Osten hat viel mit Personen und Politikstil zu tun. Man hat es gern pragmatisch, das zeigt auch die Zustimmung für Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern. Sie hat am Sonntag eine Landtagswahl zu bestehen und liegt so weit vorn, dass anders als zuletzt in anderen ostdeutschen Ländern die Frage, ob die AfD im Landesparlament stärkste Kraft werden könnte, gar nicht erst gestellt wird.

Schroeder und Kralinski schreiben, dass Scholz wie Schwesig einen "pragmatischen, lösungsorientierten und undogmatischen Politikstil" pflegt, der für die SPD Räume in der Mitte eröffne. Soziologe Mau nennt einen weiteren Effekt: Die SPD habe mit Manuela Schwesig - wie auch mit Franziska Giffey, die am Sonntag in Berlin gewinnen will - als einzige Partei sichtbare, einflussreiche Führungsfiguren aus dem Osten. Sachsens christdemokratischer Regierungschef Michael Kretschmer habe "deutlich weniger Gewicht in der CDU als die Aushängeschilder in der SPD". Und die Grünen hätten niemanden außer Katrin Göring-Eckardt.

Wegen des stärker zersplitterten Parteiensystems können Direktmandate ab Wähleranteilen von etwa 20 Prozent gewonnen werden. Schon kleine Verschiebungen können deshalb große Wirkung haben. Das weiß auch SPD-Wahlkämpfer Schneider auf dem Erfurter Domplatz: Erst mal abwarten, was der Sonntag wirklich bringt.

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