SPD nach Wahlniederlagen:Schulz gerät ins Zaudern, Gabriel bläst zur Attacke

SPD nach Wahlniederlagen: Die Reaktionen von Schulz (links) und Gabriel nach der Wahl in Schleswig-Holstein stehen in bemerkenswertem Kontrast zueinander.

Die Reaktionen von Schulz (links) und Gabriel nach der Wahl in Schleswig-Holstein stehen in bemerkenswertem Kontrast zueinander.

(Foto: AFP)

Nach den Schlappen im Saarland und in Schleswig-Holstein zeigt der neue SPD-Chef erstmals Nerven. Seinen Vorgänger dagegen scheint die Lage zu beflügeln.

Von Nico Fried und Christoph Hickmann, Berlin

Es kann doch jetzt nicht einfach alles weg sein. Martin Schulz, dieser hingebungsvolle, oft mitreißende Redner - wo ist er? Und wer ist der Mann da vorne mit dem Bart und der Brille, der einen Text referiert, ein wenig eilig, fast durchweg streng vom Blatt und nahezu ohne jeden spürbaren Kontakt zu seinem Publikum? Am Anfang liest dieser Martin Schulz ein, zwei aufgeschriebene Scherze vor. Kaum jemand lacht. Am Ende behauptet er, in den Gesichtern seiner Zuhörer eine Frage lesen zu können, die Frage, mit wem er denn eigentlich koalieren wolle. Aber er liest sie nicht in den Gesichtern, es steht nur so in seinem Manuskript.

Fast zur selben Zeit, keine fünf Kilometer entfernt, nimmt am Montagnachmittag Sigmar Gabriel Platz - und zwar vorn auf dem Podium, nachdem er sich zuvor beim Fototermin im Willy-Brandt-Haus noch hinten in der Gruppe der SPD-Größen eingereiht hatte, ziemlich weit weg vom Wahlverlierer Torsten Albig. Und von seinem Freund Schulz. Und im Gegensatz zum sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten weiß der sozialdemokratische Außenminister genau, welche Botschaft er an diesem Tag setzen will. Etwas verkürzt und zugespitzt lautet sie: Die Kanzlerin und ihr Finanzminister fahren Europa an die Wand - Schluss damit!

Es ist ein bemerkenswerter Kontrast. An dem Tag, an dem der Merkel-Herausforderer Schulz sichtlich ins Zaudern gerät, bläst Gabriel plötzlich zur Attacke auf die Kanzlerin, in deren Kabinett er immerhin noch sitzt. Ist das Arbeitsteilung? Will der Vorgänger seinem Nachfolger durch seine erste echte Krise helfen? Oder wird da schon jemand ungeduldig?

Was fehlt, ist der Sieg im Rücken

Frei von allen koalitionären Verpflichtungen, so sollte Schulz eigentlich den Wahlkampf führen. Nun hemmt ihn plötzlich die Verunsicherung. Gabriel dagegen sollte sich einordnen. Doch jetzt wirkt es, als wolle er zeigen, wie man das machen muss, wenn's eng und schwierig wird.

Berlin, Industrie- und Handelskammer hinter dem Bahnhof Zoo. Eigentlich wollte Schulz hier die nächste Stufe seiner Kandidatur zünden: eine wirtschaftspolitische Grundsatzrede, den erhofften Sieg bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Rücken, den nächsten Triumph in Nordrhein-Westfalen vor Augen. Der Saal ist voll, Berliner Unternehmer und einige Unternehmerinnen, ganz sicher keine traditionell sozialdemokratische Wählerklientel, aber ein interessiertes Publikum. Manche machen sich sogar Notizen.

Die Grundsätze hat Schulz mitgebracht. Was fehlt, ist der Sieg im Rücken - und der Triumph vor Augen. Stattdessen kriecht den Sozialdemokraten nach der Niederlage im Saarland und nach der Schlappe in Kiel die Angst unter die Kleider. Der Enthusiasmus, die Zuversicht, das Selbstbewusstsein der vergangenen Wochen, sie weichen an diesem Tag einer Stimmung, die Martin Schulz kurz zuvor in der Parteizentrale unumwunden formuliert hat: "Wir sind in einer schwierigen Lage." Wenn ein Vorsitzender gut ist, weil er den Zustand seiner Partei verkörpert, dann ist der zaghafte, unsichere Martin Schulz an diesem Montag ein sehr guter Vorsitzender.

Schulz: "Meine große Sorge ist, dass wir uns zu sicher fühlen"

Jetzt aber Schulz und die Wirtschaft - da begegnen sich ja keine Fremdlinge. Er hat Unternehmer schon begeistert, Säle gerockt, CDU-Wähler ins Zweifeln gebracht. Hier bei der IHK aber wird seine knapp einstündige Rede genau einmal vom Applaus Einzelner unterbrochen. Dabei war Schulz, der Buchhändler, selbst mal Unternehmer. Er sagt das in aller Demut, es war ja nur ein kleiner Betrieb, Schulz will sich gar nicht vergleichen mit den Großen. Aber wenn er jetzt sagt, er habe auch schon des Nachts wach gelegen und gezweifelt, dann bezieht das an einem Tag wie diesem sowieso niemand auf sein Unternehmertum. Dann denkt man an Schulz, die SPD und seine Kanzlerkandidatur.

Solche Sätze sind viele in dieser Rede. Sie waren wirtschaftspolitisch gemeint, aber jetzt bieten sie sich geradezu an, auch die Lage der SPD zu beschreiben. "Meine große Sorge ist", sagt Schulz zum Beispiel, "dass wir uns zu sicher fühlen." Genau das konnte man erleben in den vergangenen Wochen, wenn man Sozialdemokraten begegnete. Auf das, was droht, wenn am Sonntag in Nordrhein-Westfalen auch die dritte Landtagswahl verloren gehen sollte, passt am besten dieser Satz von Schulz: "Mir ist wichtig, dass wir uns nicht zurückbegeben in ideologische Grabenkämpfe."

Zweifel, Unsicherheit, Ratlosigkeit: Es ist noch keine vier Monate her, da dachte man bei diesen Begriffen nicht an Schulz, sondern an jenen Mann, der zur selben Zeit in der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin-Mitte sitzt, um sein neues Buch vorzustellen oder besser: vorstellen zu lassen - und zwar ausgerechnet von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, der zwar kein Sozialdemokrat, aber trotzdem eng mit Schulz verbunden ist. Jener Sigmar Gabriel wirkt mittlerweile allerdings gar nicht mehr unsicher, sondern ziemlich zufrieden mit sich, der Welt und seinem neuen Amt. Selbst seine Beliebtheitswerte haben inzwischen jene Regionen erreicht, die eines deutschen Außenministers würdig sind. Läuft doch.

Schon am Abend zuvor hat er in mehreren Interviews und zur Sicherheit auch noch per Presseerklärung klargemacht, worauf es nun ankomme, da sein "Freund" Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl gewonnen habe. Deutschland müsse "seine finanzpolitische Orthodoxie aufgeben" und dürfe Macron, wenn es von ihm Reformen erwarte, nicht zugleich den bisherigen strikten Sparkurs aufzwingen.

Das durfte man durchaus als Frontalangriff auf die Union verstehen. Und für den Fall, dass irgendjemand die Sache nicht verstanden haben sollte, nimmt Gabriel den Faden nun bei der ersten Gelegenheit wieder auf. Erst lässt er Juncker ein wenig für das Werk mit dem ambitionierten Titel "Neuvermessungen" werben, dann legt er los: "Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Deutschen mehr in Europa investieren müssen", sagt Gabriel. Es gehe nicht an, dass andere Länder Deutschland gleichsam anbetteln müssten - das habe auch etwas mit Respekt zu tun. Und hier gehe es nicht nur um Frankreich. Italien etwa ringe mit einer schweren Bankenkrise, "und wegen 0,2 Prozent mehr Defizit machen wir gleich ein Riesentheater". Dabei habe Deutschland einst auch mehr Schulden gemacht als offiziell erlaubt - und auf diesem Weg seine Volkswirtschaft saniert.

Gabriel empfiehlt seiner Partei, ruhig einmal ein bisschen mehr Mut zu zeigen

Das nennt man wohl Wahlkampf-Modus. Kurz fühlt man sich an 2009 erinnert, als der Umweltminister Gabriel mit einer furiosen Anti-Atom-Kampagne den Wahlkampf des glücklosen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier belebte. Die Frage ist bloß, ob das Thema wirklich zum sozialdemokratischen Wahlkampfschlager taugt. Oder reagiert die von der SPD so umworbene "arbeitende Mitte" vielleicht doch eher reserviert, wenn es darum geht, den Sparkurs in Europa zu lockern?

Auch Gabriel war sich da nicht immer so sicher. Noch keine zwei Jahre ist es her, dass er als Wirtschaftsminister gen Griechenland polterte, man werde nicht "die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung durch die deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien bezahlen lassen". Doch nun klingt er ganz anders. Zwar räumt er ein, seine Thesen seien womöglich im Wahljahr nicht unbedingt populär, empfiehlt seiner Partei dann aber doch, im Wahlkampf auf mehr Investitionen zu dringen. Sonst schneide man sich nur ins eigene Fleisch. Die deutsche Sozialdemokratie dürfe "ruhig mutig an dieses Thema herangehen".

Das mit den Investitionen sagt Schulz auch. Überhaupt ist der Unterschied zwischen ihm und Gabriel an diesem Tag nicht der Inhalt, sondern die Anmutung. Einen wirtschaftspolitischen Satz sagt Schulz noch, den man auch anders verstehen kann: "Wir brauchen eine Kultur der nächsten Chance." Das passt gut auf ihn an diesem Tag nach dem zweiten Misserfolg. Und auf Gabriel passt das sowieso immer.

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