Süddeutsche Zeitung

SPD-Mitgliederentscheid über Koalitionsvertrag:Der Sozi, das unbekannte Wesen

Unerwartet viele Mitglieder haben für den SPD-Entscheid über die große Koalition bereits ihre Stimme eingeschickt. Doch was verbergen die Umschläge? Sogar der Vorstand weiß wenig über die Basis. Klar ist nur: Viele Jusos sagen nein.

Von Christoph Hickmann, Nürnberg

Man kann über Sascha Vogt nicht sagen, dass er es sich am Ende noch mal gemütlich macht. Nicht einmal am letzten Tag tut er das, stattdessen geht er am Freitagnachmittag in der Nürnberger Q-Location ans Rednerpult und sagt, auch er sei der Meinung, dass Regieren kein Selbstzweck sei: "Aber das Gegenteil ist es auch nicht." Was er damit einleitet, ist sein Ja zur großen Koalition, seine Begründung, warum er für dieses Bündnis ist und nicht dagegen - und das ist dieser Tage bei den Jusos schon ziemlich mutig. Man kann sagen: Vogt kämpft bis zuletzt.

Sascha Vogt war seit Mitte 2010 Vorsitzender der Jusos, es ist seine letzte Rede in diesem Amt. Am Freitagabend wird der Juso-Bundeskongress bestimmen, wer ihm nachfolgt. Hätte Vogt, 33, es in den letzten Tagen im Amt möglichst bequem haben wollen, dann hätte er sich nur an die Spitze des Widerstands gegen die große Koalition setzen müssen, den große Teile der Jusos gerade pflegen.

Sieben Landesverbände haben sich kürzlich gegen das Bündnis mit der Union ausgesprochen, Juso-Vertreter positionieren sich im Fernsehen, und bevor Sigmar Gabriel kürzlich im Taunus erstmals mit Genossen über den fertigen Koalitionsvertrag diskutieren konnte, empfingen ihn dort südhessische Jusos mit Flugblättern gegen Schwarz-Rot. Sascha Vogt aber sagt in Nürnberg, er sei der Meinung, dass man auf der Basis des Koalitionsvertrags "einiges bewegen" könne. Applaus gibt es dafür so gut wie keinen.

Die Jusos stören das Bild, das derzeit von der Stimmung in der SPD-Mitgliedschaft entsteht. Demnach scheint die Sache ja beinahe gelaufen zu sein - von den Regionalkonferenzen wird berichtet, dass dort zwar kontrovers diskutiert werde, die Befürworter der großen Koalition aber klar in der Mehrheit seien.

Im Osten soll es etwas schwieriger sein für die Parteispitze, in Magdeburg etwa sollen sich nach Berichten von Teilnehmern neulich Zustimmung und Ablehnung in etwa die Waage gehalten haben. Doch grundsätzlich nimmt man an der Parteispitze viel Zustimmung wahr, Umfragen unter SPD-Anhängern bestätigen dieses Bild. Doch da sollte man sehr vorsichtig sein: Anhängerschaft ist nicht gleich Mitgliedschaft. Und diejenigen, die an den Regionalkonferenzen teilnehmen, gehören wohl größtenteils zur sogenannten aktiven Mitgliedschaft, sind also Genossen, die sich ohnehin in der Partei engagieren. Was aber ist mit dem Rest?

Das ist die Frage, die niemand beantworten kann - und vom großen Rest dürfte ein erheblicher Teil jener knapp 200.000 Umschläge mit Abstimmungsunterlagen stammen, die bis Freitag, zwölf Uhr, bei der SPD eingegangen waren. Die Zahl löste intern Freude aus, schließlich ist damit das Quorum von 20 Prozent übertroffen, das Mitgliedervotum wird gültig sein. Zudem zeigt es, wie groß das Interesse unter den gut 473.000 Genossen sein muss, die an der Abstimmung teilnehmen dürfen. Doch nun beginnt das Rätselraten: Was verbirgt sich, neben einer wohl beträchtlichen Zahl ungültiger Stimmen, in den Umschlägen? Schließlich weiß man wenig bis nichts über einen guten Teil der Mitglieder.

Selbst engagierte, bemühte Vorsitzende von Ortsvereinen und Unterbezirken kennen nur einen Bruchteil der Mitglieder vor Ort. Denn viele haben zwar ein Parteibuch, lassen sich aber nie blicken. Wie denken die nicht aktiven Mitglieder über die große Koalition, wie werden sie abstimmen? Das ist die große Unbekannte, und das weiß man auch an der Parteispitze nicht, trotz aller Zuversicht, die dort gerade verbreitet wird.

"Maximal das kleinere Übel"

Die Standardargumentation der Spitzengenossen dazu lautet, dass diese Mitglieder im Großen und Ganzen eher der SPD-Wählerschaft entsprechen dürften als den SPD-Funktionären - und damit eher aufgeschlossen für die große Koalition seien. Doch so selbstbewusst mancher Spitzengenosse diese Herleitung auch vorträgt, es bleibt eine Vermutung.

Bei den Jusos hingegen ist am Freitagnachmittag klar zu erkennen, wie die Mehrheiten verteilt sind. Da müht sich Sascha Vogt am Rednerpult und zeichnet noch einmal den Weg vom Wahltag an nach: Sondierungen, Verhandlungen, Vertrag. Den fasst er so zusammen: "Es gibt mehr Fort- als Rückschritt in Bezug auf die Gesellschaft." Da regt sich kaum eine Hand. Die Delegierten plaudern, begrüßen sich, kaum einer macht den Eindruck, als interessiere ihn oder sie die Rede des Mannes, der immerhin in den vergangenen drei Jahren Vorsitzender dieses Verbands gewesen ist. Am Ende gibt es etwas Höflichkeitsapplaus.

Dafür bekommt dann am späten Abend Johanna Uekermann tosenden Applaus, und zwar rhythmischen. Die 26-Jährige aus Straubing bewirbt sich für den Bundesvorsitz, und sie sagt Nein zur großen Koalition: "Dieser Koalitionsvertrag bedeutet kleines Herumdoktern an großen Problemen!", ruft sie. "Egal wie groß die Koalition auch immer sein mag, ihre Konzepte sind zu klein für die Probleme unserer Zeit." Und das große Problem, sagt sie, "heißt Kapitalismus". Der Saal tobt.

Ihr Gegenkandidat Hauke Wagner aus Hamburg spricht sich für die große Koalition aus: "Wir müssen es zumindest versuchen." Er bleibt ohne Chance. Johanna Uekermann wird mit ungefähr 70 Prozent gewählt.

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SZ vom 07.12.2013/anri/resi
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