Dieser Geist von Würzburg hat wahrlich schwer zu tragen, so viel Hoffnung in ihn projiziert, so oft er nun bemüht wird. Erst gerade wieder, von CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann, als er mit Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) und ihrem SPD-Pendant Matthias Miersch unter der Reichstagskuppel die im zweiten Anlauf geschaffte Wahl von drei neuen Verfassungsrichtern lobte. Durch die Klausurtagung der Fraktionsspitzen von Union und SPD in seiner Heimatstadt Würzburg sei ein ganz neuer Geist in die Koalition gekommen, so Hoffmann.
An irgendwas muss man sich ja klammern, in Hoffnung auf bessere Zeiten. Spahn sekundierte, mit den Beschlüssen zum Haushalt, dem Infrastruktur-Sondervermögen, der Richterwahl und anstehenden Entscheidungen im Bundestag zum neuen Wehrdienst und einer Wohnungsbau-Offensive zeige die Koalition Handlungskraft, fasse Tritt.
Jetzt soll also der beschworene Geist von Würzburg sozusagen ergänzt werden vom Geist der Villa Borsig, wenn es denn gut geht. Dort, am Tegeler See, kommt die Bundesregierung am Dienstag und Mittwoch zu ihrer ersten Kabinettsklausur zusammen. Im Fokus steht neben einer Modernisierungsagenda und weniger Bürokratie die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Gerade die Sozialdemokraten, das zeigt ein Stimmungsbild im Bundestag, sehen sich ständig in der Defensive. Man bekomme Erfolge nicht richtig transportiert, oder die Bürger spürten die Investitionen noch nicht genug, heißt es. Und ein sehr erfahrener SPD-Mann sagt: So weh das tue, wer in den Debatten die Punkte mache, mit scharfer, aber teils berechtigter Kritik an der Koalition und der Lage des Landes, das sei die AfD. Er hört sich mehr als besorgt an.
Wer seit seiner Abstrafung beim Parteitag erkennbar Schwierigkeiten hat, Tritt zu fassen, ist SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil. Versuche, die SPD wieder als Partei der arbeitenden Mitte, der Wirtschaft und der Industrie zu positionieren, zeitigen noch nicht so viel Erfolg, zumal gerade Unternehmen Stellen in jenem Milieu streichen, in dem die SPD früher ihre Wähler gewann. So werden etwa bei Bosch Tausende Arbeitsplätze wegfallen.
Selbst Termine, die sonst Heimspiele sind, sind gerade nicht nur angenehm. Vergangene Woche waren Klingbeil und seine Co-Vorsitzende Bärbel Bas zu Gast beim Fest der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Deren Chef Martin Burkert, selbst früher SPD-Bundestagsabgeordneter, warnte den Finanzminister: „Wiederholen Sie nicht die Fehler der Vergangenheit.“ Jahrelang habe die Politik die Bahn „brutal vernachlässigt“. Klingbeil habe nun zwar mit dem neuen Infrastruktur-Sondervermögen die Trendwende eingeleitet. An zentralen Stellen habe Klingbeils Haushalt für 2025 aber gefährliche Schwächen. Als Beispiel nannte er die sogenannte Trassenpreisförderung, die Klingbeils Haus aus Spargründen zusammengestrichen habe, wodurch steigende Preise bei der Bahn drohten. „Ein schwerer Fehler“, sagte Burkert, „wir machen Bahnfahren zum Luxusgut, wegen 170 Millionen Euro.“
Daneben schwelt seit Tagen ein Streit zwischen Klingbeil und Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU), es geht um die Finanzierung von Autobahn-Neubauprojekten. Schnieder ist der Ansicht, Klingbeil stelle ihm viel zu wenig Mittel dafür zur Verfügung. Klingbeil sieht das anders, weil Schnieders Ministerium besser ausgestattet sei als je zuvor, bis 2029 stünden insgesamt 166 Milliarden Euro für Straßen, Schienen und Wasserstraßen zur Verfügung. Klingbeil erwartet dennoch, dass Schnieder erst vorhandene Infrastruktur saniert, bevor er Neues baut.
Nachdem diverse Unionsabgeordnete ausgeschwärmt waren und eine regelrechte Kampagne für mehr Autobahn-Milliarden über die Bild-Zeitung losgetreten hatten, mischte sich schließlich Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) beschwichtigend in die Debatte ein. Er versprach, gemeinsam mit Klingbeil mehr Straßen-Milliarden aufzutreiben, und bat in einer Fraktionssitzung von CDU/CSU darum, sich mit öffentlicher Kritik am Finanzminister zurückzuhalten. Dieser reagiere auf so etwas „sehr sensibel“. Auch diese Aussage landete sogleich in der Bild.
Politiker werden nicht gerne als empfindlich dargestellt, aber Klingbeil ist Profi genug, um damit entspannt umzugehen. Merz wird keine böse Absicht unterstellt, zumal dem Kanzler ein sehr enger, vertrauensvoller Kontakt zu Klingbeil nachgesagt wird. Aber in der SPD wundern sie sich schon, wie taktisch ungeschickt der Kanzler bisweilen vorgeht.
Und da ist ja auch noch Bärbel Bas, die als Arbeits- und Sozialministerin besonders unter Lieferdruck steht. Als Merz nun sagte, die Reform des Bürgergeldes mache er zur Chefsache, konterte sie, dass dies vor allem Chefinnensache sei. Aber wie hier die von Merz geforderten fünf Milliarden Euro im Jahr eingespart werden sollen, ist bisher offen. Bas verspricht, dass es stärkere Kürzungen bei den Leistungen geben soll, wenn Empfänger etwa Termine schwänzen oder zumutbare Arbeit ablehnen. Und sie will den Missbrauch von Sozialleistungen durch kriminelle Banden eindämmen.
Schon jetzt ist klar, dass einige der weiteren Reformen etwa der Rente oder der Finanzierung der Gesundheits- und Pflegekosten frühestens im kommenden Jahr etwas werden. Die SPD will dabei die Pflegeversicherung grundlegend verändern, damit kleine Einkommen nicht überfordert werden, wenn plötzlich Angehörige gepflegt werden müssen. Statt Leistungskürzungen, höheren Beiträgen oder Zuzahlungen streben die Sozialdemokraten mehr Einnahmen an – etwa durch mehr Einzahler ins Gesundheits- und Pflegesystem. Eine weitere Idee ist die Einführung einer Abgabe zur Erhaltung der Pflegeinfrastruktur in Höhe von 1,5 Prozent.
Das Vertrauen der SPD in die Reformbereitschaft der Union scheint dabei nicht sehr groß zu sein. Als gäbe es nicht schon genug Kommissionen, die sich über einen effizienteren Sozialstaat, sichere Renten und bezahlbare Gesundheit und Pflege Gedanken machen, setzt die SPD nun an diesem Montag noch eine eigene, parallele Sozialstaatskommission ein – geleitet von Bärbel Bas. Das erinnert ein wenig an die SPD zu Zeiten des Vorsitzenden Sigmar Gabriel: Damals sollte ein gewisser Olaf Scholz für die Partei ein neues Rentenkonzept entwickeln. In einem Buch ist beschrieben, wie er, als er die Documenta in Kassel besuchte, im Hotel zufällig ein Schild sah, das auf eine Tagung des SPD-Vorstands am selben Ort hinwies. Nanu, dachte sich Scholz, der selbst Mitglied des Vorstands war. Er öffnete die Tür und sah, dass drinnen Parteichef Gabriel mit Experten ein eigenes Rentenkonzept erörterte.
