SPD-Kanzlerkandiat:Schulz hackt die Agenda 2010 entzwei

Es ist viel vom Schulz-Wunder die Rede, um die gestiegenen SPD-Umfragewerte zu erklären. Aber Zahlen sind trügerisch. Schulz muss den Glauben daran wecken, dass seine Partei für die kleinen Leute kämpft.

Kommentar von Heribert Prantl

Grundsatzprogramme heißen so, weil sie grundsätzlich keiner liest. Das derzeit geltende Grundsatzprogramm der SPD stammt aus dem Jahr 2007 und heißt "Hamburger Programm". Kaum einer kennt dieses Programm. Aber fast jeder kennt die Agenda 2010, die bald 13 Jahre alt wird. Und fast jeder hält diese Agenda für das geltende Grundsatzprogramm der SPD. Bis weit in die Mittelschicht hinein macht diese Agenda Menschen Angst. Diese Angst ist nicht unberechtigt, weil die Agenda 2010 bei Arbeitslosigkeit dazu führen kann, dass man ganz schnell ganz tief fällt, so tief, dass man - auch wenn man viele Jahre lang fleißig gearbeitet hat - auf dem harten Boden einer bescheidenen Grundsicherung aufschlägt. Die Agenda gilt vielen Leuten daher als Rutsche in die Armut.

Dieses negative Symbol, dieser negative Ruf der Agenda hat die SPD an den Rand ihrer Existenz gebracht. Für viele alte SPD-Wähler und viele SPD-Sympathisanten war die Agenda eine Austrittserklärung: eine Austrittserklärung der SPD aus ihrer eigenen Geschichte als Partei der kleinen Leute. Das Arbeitsmarkt-Programm, das der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz jetzt in seinen Grundzügen vorgelegt hat, ist der Versuch einer Wiedereintrittserklärung in diese Geschichte. Schulz will, dass ihm und seiner Partei wieder etwas zugetraut wird bei der Suche nach sozialer Gerechtigkeit, bei der Verteidigung des Sozialstaats, beim Abbau der Unterschiede zwischen Arm und Reich. Schulz hackt daher mit großem Brimborium die Agenda entzwei. Er halbiert sie; von der Agenda werden die letzten drei Buchstaben abgeschlagen. Das Wort "age" soll übrig bleiben - ein neues Zeitalter für die Sozialdemokratie.

Das Schulz-Mirakel: ein Wunder oder ein Soufflé?

Ein Zeitalter beginnt aber nicht allein dadurch, dass man es ausruft. Diese Kraft hat auch der umfragengekräftigte Martin Schulz nicht. Er hat ja nicht einmal die Kraft, ein paar Stücke aus der nun schon angejahrten Agenda herauszubrechen. Dazu braucht er erstens eine politische Mehrheit, und zweitens den wirklichen Willen, die Entwertung der Lohnarbeit zu beenden. Die Weise, wie Schulz in Brüssel agiert hat, lässt da nicht unbedingt hoffen. Er nutzt jedenfalls die Aufmerksamkeit, die er derzeit genießt, um plakativer das zu sagen, was vor zehn Jahren schon der damalige Parteichef Kurt Beck zu sagen versuchte, was dem aber kaum einer geglaubt hat: dass die SPD wieder die Farbe wechseln will vom Agenda-Gelb zum Sozi-Rot.

Beck hat seinerzeit aus dem neoliberal getränkten und geschwätzigen Entwurf zu einem neuen Parteiprogramm ein sozialstaatliches neues Grundsatzprogramm machen lassen, das Hamburger Programm. Allein: Beck fehlte die rhetorische Leidenschaft, um die neue, alte Botschaft zu vermitteln. Und es fehlte ihm die Verve, sich gegen Müntefering und Co. durchzusetzen. Das gefühlte Programm der SPD blieb die Agenda. Über den unsinnigen Streit darüber, ob und wie sakrosankt die Agenda 2010 sei, machte sich selbst Gerhard Schröder, ihr Schöpfer, lustig, weil er etliche Fehler dieser Agenda durchaus erkannte. Aber die SPD war lange Zeit kanzlerischer als ihr Altkanzler. Sie hielt an der Agenda so verbissen fest, als handele es sich um die sozialdemokratische Verfassung. Das war ein Fehler, der die Sozialdemokraten beinahe ruiniert hätte. Eine Verfassung darf nicht so sein, dass sie die Verfassung der Menschen ruiniert. Und eine Verfassung darf auch nicht so sein, dass sie die Partei ruiniert, die sie verfasst hat.

Das hatte auch Sigmar Gabriel erkannt. Der bisherige SPD-Parteichef hat daher wiederholt Ähnliches gefordert, wie es soeben Martin Schulz fast kitschig propagiert und inszeniert, vor Betonmischer und Schubkarre: nämlich Erleichterung und Verlängerung beim Bezug des Arbeitslosengelds I und Reduzierung der befristeten Arbeitsverträge. Aber von Gabriel wollten das viele Wähler nicht hören, Gabriel galt ihnen als Residuum der Schröder-Ära. Den Leuten fehlte, trotz Mindestlohn und ähnlichen Sozi-Taten in der großen Koalition, der Glaube an die Wiederkehr der leidenschaftlichen Sozialstaatlichkeit der SPD.

Es ist nun viel vom Schulz-Wunder die Rede, um den gewaltigen Zuwachs der SPD in den Umfragen zu erklären. Die Sozialdemokraten berauschen sich an diesen Zahlen. Aber solche Zahlen sind trügerisch, Umfragen sind launenhaft, und bis zur Bundestagswahl kann viel geschehen. Ein wirkliches Wunder - das ist ein Ereignis, das Glauben schafft. Darum geht es Schulz: den Glauben daran zu wecken, dass die SPD die Partei der kleinen Leute ist. Wenn ihm das gelingt, stehen die Aussichten für die SPD gut. Wenn nicht, dann ist das Schulz-Wunder kein Wunder, sondern nur ein Soufflé - es fällt dann wieder zusammen.

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