SPD:Herz gegen Verstand

Andrea Nahles Speaks At SPD Ash Wednesday Gathering In Schwerte

Die mögen sie, vorerst jedenfalls: Andrea Nahles, noch in dem Stadium, in dem eine Genossin mit ihr in Schwerte ein Selfie haben will.

(Foto: Lukas Schulze/Getty Images)

Zum Beispiel am Aschermittwoch in Schwerte, Westfalen: wie die Genossen mit sich ringen und Andrea Nahles das Quietsch-Entchen bemüht.

Von Christian Wernicke, Schwerte

So wie Uwe Buchwald leiden viele Genossen: Die Groko zerreißt ihn. "Mein Herz sagt Nein, mein Verstand sagt Ja", räumt der Sozialdemokrat ein, während er draußen vor dem "Freischütz", dem Waldlokal am Stadtrand von Schwerte, an seiner Zigarette zieht. Buchwald quält sich, der 55-jährige EDV-Spezialist will nicht einfach aus seinem kräftigen Bauch heraus entscheiden, ob er beim Mitgliederentscheid nun für oder gegen das erneute Bündnis mit Angela Merkel stimmt. Dafür stehe zu viel auf dem Spiel, sagt er, "für die Partei wie fürs Land". Und dafür muss er, der Vorsitzende des Ortsvereins Westhofen, sich dieser Tage von Wählern zu oft anhören, was seine SPD und der Herr Schulz falsch machen: "Die Leute fühlen sich verarscht."

Einer will mit ja stimmen und tröstet sich: Höchstens eineinhalb Jahre werde die Koalition halten

Fluppe aus, rein in den Ballsaal. Mehr als 600 Genossen hocken unter dem Holzdach des Ballsaals an langen Tischen, trinken Bier (2,90 Euro), schneiden Schweineschnitzel (13,50 Euro). Und hören, was "die da oben" auf der Bühne zu sagen haben. Vor allem auf Andrea Nahles, die designierte Parteichefin, ist Buchwald gespannt. Für die nächste Hoffnungsträgerin der SPD ist der Auftritt beim Politischen Aschermittwoch in Westfalen ein Testlauf: Von Freitag an geht sie auf Tour, um in sieben Regionalkonferenzen die bisher skeptische Basis koalitionsfähig zu reden. Andere Argumente als im Schwerter "Freischütz" wird sie dafür kaum finden.

Nahles muss Stimmen gewinnen - und droht ausgerechnet da ihre eigene Stimme zu verlieren. Sie klingt, wie die Partei sich fühlt: ausgezehrt, zerschunden. Etwa, als sie ins Mikro krächzt, wie wichtig eine stabile Regierung in Deutschland sei. Jetzt, da "der Staatskapitalismus chinesischer Prägung" überall wildere und "die Monopole aus dem Silicon Valley" nirgendwo Steuern zahlten. Das verfängt, etwa bei Babette Vierschilling: Die Beamtin, eigentlich Groko-Skeptikern, plagen Sorgen, "wegen Trump, Brexit, Nordkorea". Vierschilling schwankt, der Saal zollt Nahles ersten Beifall. Ein Anfang.

Es geht kreuz und quer. Nahles preist, was die Parteiführung so alles rausgeschlagen habe bei den Verhandlungen mit Merkel und den Schwarzen ("Die Renten, das war die härteste Nuss!"). Im Parkett geht's genauso hin und her. Udo Wilkes zum Beispiel, der 73-jährige Rentner, war gegen die Koalition - "eigentlich". Aber nun will er doch mit Ja stimmen. Weil Nahles ihn überzeugt hat? "Nein, die ist so heiser, die versteht man kaum." Der Mann im roten Pulli lässt die Schultern hängen. "Es muss irgendwie weitergehen", sagt er und tröstet sich: "Mehr als eineinhalb Jahre wird diese Regierung eh nicht halten."

So hadert jeder mit sich. Gegenüber am Tisch sitzt Rüdiger Schmidt. Der Ratsherr aus Dortmund ist ins Grübeln gekommen, seit er den Koalitionsvertrag studiert hat: "Ich war gegen die Groko, aber da stehen gute Sachen drin." Die Beschränkung befristeter Arbeitsverträge etwa sei "unser Erfolg". Nur, als vorige Woche der Zank unter den obersten Genossen um die Ministerposten ausbrach, kippte bei Schmidt erneut die Stimmung: "Das wirkte, als wären unsere Spitzenpolitiker nur da, um sich Pfründe zu sichern." Also doch Nein? "Ich bin mir nicht sicher."

Am Ende, als Nahles ihre Stimmbänder nach 25 Minuten erschöpft hat, ergibt die Stichprobe des SZ-Reporters unter zwölf Befragten: viermal Ja, viermal Nein, vier Unentschlossene. Und kein Genosse, der sagt, er habe im "Freischütz" seine Meinung geändert. Auch Uwe Buchwald ringt weiterhin mit sich. Nahles habe ihn "positiv überrascht", zum Abschluss ist er sogar aufgestanden, um der künftigen Vorsitzenden zu applaudieren. Spaß gehabt an diesem Abend hat er nur, als Nahles erzählte, wie sie bei den Berliner Verhandlungen die Weltpolitikerin Merkel "zum Quietsche-Entchen" gemacht habe.

Buchwald neigt zum Nein. Eine Herzenssache, vorerst. Am Sonntag wird er wieder hinhören. Wenn Nahles denn wieder sprechen kann bis zur Regionalkonferenz in Kamen. Leicht macht es die SPD keinem von beiden.

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