Auch eine höfliche Einladung kann ein Machtinstrument sein. Für diesen Freitag um 7 Uhr hat Rolf Mützenich eine Sondersitzung der SPD-Bundestagsfraktion im Otto-Wels-Saal angesetzt. Die Einladung ging auch an den Kanzler. Eine Videozuschaltung wird nicht möglich sein. Immerhin wird aber ein „kleiner Imbiss“ versprochen, am wichtigsten dürfte zu so früher Stunde sicher viel Kaffee sein.
Man kann es auch als Rapport verstehen. „Das ist schon eine Ansage, den Kanzler für sieben Uhr einzubestellen“, sagt ein Abgeordneter. Eigentlich war der Plan, dass eine Einigung über die Grundzüge des nächsten Haushalts – sollte es sie geben – zunächst von Olaf Scholz, dem grünen Vizekanzler Robert Habeck und FDP-Chef Christian Lindner im Kanzleramt verkündet wird. Nun hat Mützenich mit seiner Einladung das Erstinformationsrecht für die SPD-Abgeordneten beansprucht. Es ist auch etwas ins Rutschen geraten zwischen dem Kanzler, der sich nicht gegen die FDP durchsetzen kann, und dem Fraktionschef, der ihm bisher verlässlich und loyal die Mehrheiten organisiert hat.
Mützenich wirkt in diesen Tagen noch nachdenklicher als sonst
Abgeordnete erinnern daran, wie schon andere SPD-Kanzler am Ende an den eigenen Leuten gescheitert sind. In der Fraktion wird der Koalitionsbruch jedenfalls bereits durchgespielt. Dass die Regierung an diesem Freitag auseinanderbricht, erwarten allerdings nur die größten Pessimisten in dem Ampelbündnis.
Aber viel wird davon abhängen, wie Mützenich das Gesagte des Kanzlers in der Sondersitzung anschließend bewerten wird. Werden die Vorschläge für den Haushalt 2025 in der Fraktion nicht akzeptiert, müsste Scholz versuchen nachzuverhandeln. Das Kabinett soll den Haushaltsentwurf nach bisherigem Stand am 17. Juli beschließen.
Der fast täglich schmaler wirkende Mützenich hat nun eine große Last auf seinen Schultern, er wirkt noch nachdenklicher und in sich gekehrter als sonst. Er ist in einer besonderen Machtposition nun, entscheidet mit, ob die Koalition halten wird. Mützenich sieht die Grenzen der Geduld in seiner Fraktion, die sich bei einer Neuwahl halbieren könnte, wenn man den aktuellen Umfragen folgt. Die Abgeordneten wünschen sich einen großen Wurf mit neuen Projekten, um die Stimmung zu bessern. Aber dafür bräuchte es halt mehr Geld.
Unabdingbar ist aus Sicht der SPD-Abgeordneten ein Instrument, für das Mützenich immer den Fachbegriff benutzt: Überschreitungsbeschluss. Gemeint ist, dass der Bundestag wegen der Auswirkungen des Ukrainekriegs eine Haushaltsnotlage und eine Ausnahme von der Schuldenbremse beschließen soll. Das würde bedeuten, alle Kosten, die mit den Folgen des Kriegs zusammenhängen, würden von der Schuldenbremse ausgenommen, inklusive der Bürgergeldzahlungen an Geflüchtete aus der Ukraine.
Aus Sicht der SPD-Fraktion stünden damit etwa 30 Milliarden für andere Investitionen zur Verfügung. Um die FDP zu überzeugen, wären einige der SPD-Abgeordneten sogar bereit, als Gegenleistung die Abschaffung des Solidaritätszuschlags auch für Spitzenverdiener anzubieten. Aber der Parteivorsitzende, Finanzminister Christian Lindner, lehnt das bisher ab.
Notlage oder Bruch der Koalition? So tickt Mützenich nicht
Was passiert, wenn Lindner hart bleibt und es keine Notlage gibt? Dann würde die SPD-Fraktion wohl in oder nach der Sommerpause noch einmal versuchen, sich mit der Androhung des Koalitionsbruchs durchzusetzen. Sollte das scheitern, wird über eine rot-grüne Minderheitsregierung als Option gesprochen, mit vorläufiger Haushaltsführung in den ersten Monaten 2025 und Neuwahlen im März oder April.
Mützenich hat am Dienstag vor der Fraktionssitzung – es war die letzte reguläre vor der Sommerpause – allerdings betont, dass es die Wenn-dann-Logik für ihn nicht gibt. Wenn die Notlage nicht ausgerufen wird, dann Bruch der Koalition? – So tickt er nicht. Dennoch ist die Option realer als jemals zuvor seit 2021.
Über den Agrardiesel-Beschluss war Mützenich gar nicht glücklich
Mützenich ist Parlamentarier durch und durch, die Haushaltsgestaltung ist das Königsrecht des Parlaments. Ihn störte schon beim letzten Mal, dass da im Kanzleramt im kleinen Kreis irgendwelche Kürzungstabellen erarbeitet werden.
Manches Mal musste sich der Fraktionschef schon verbiegen, um dem Kanzler Mehrheiten zu beschaffen. Das Heizungsgesetz wurde im Bundestag von den Ampelfraktionen repariert, damit den Bürgern die Ängste vor unfinanzierbaren Austauschpflichten genommen werden. Als sich Scholz, Lindner und Habeck bei den Haushaltsberatungen für 2024 die Kürzungen beim Agrardiesel ausdachten, schwante Mützenich, das werde böse enden – die Fraktionen mussten dann zur Besänftigung ein Agrarpaket für die Landwirte zimmern.
Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles im Juni 2019 war er als Übergangslösung belächelt worden. Heute spricht auch ein Friedrich Merz mit großem Respekt über Mützenich, zu ihm pflegt er einen weitaus besseren und regelmäßigeren Draht als zum Kanzler.
Im so wichtigen Machtgefüge Scholz/Mützenich aber sind Risse sichtbar. Mützenich sendet seit Tagen Signale an seinen Kanzler, dass es wirklich ernst ist. „Ich werde den Haushaltsgesetzgeber, zumindest meine Fraktion, nicht ohne Kenntnis über die Schwerpunkte und die Nutzung des Instruments in die Sommerpause gehen lassen“, sagt er am Dienstag. Die starre Haltung der FDP halte er für einen schweren Irrtum. „Ich möchte nicht, dass die inneren und äußeren Herausforderungen gegeneinander ausgespielt werden“, betont er mit Blick auf die Folgen des Ukrainekriegs und Investitionen hierzulande. Wenn der Kanzler wisse, wie der Haushalt ohne Notlagenbeschluss mehr Spielraum für Investitionen bekomme, „dann wird es meiner Fraktion überlassen sein, diese Kenntnisse aus ihrer Sicht zu bewerten“.
Scholz wirkt vor der Fraktionssitzung am Dienstag, als habe er alles im Griff, das werde schon zu lösen sein. Er unterschreibt für einen Bürgermeister und großen Schalke-04-Fan erst einmal einen Wimpel und lässt noch ein paar Selfies machen. Drinnen gibt er der SPD-Fraktion dann einen zwölfminütigen Zwischenstand. Ein ratloser Abgeordneter fasst die wichtigste Botschaft so zusammen: „Es gibt mit allen Resorts eine gemeinsame Vorstellung darüber, wie es beim Haushalt ausgeht.“
Bemerkenswert auch der Auftritt des Duos Scholz/Mützenich am Mittwochabend beim traditionellen Hoffest der SPD-Bundestagsfraktion. Mützenich dankt erst den Mitarbeitern der Poststelle, besonders auch den Personenschützern, dann spricht er über die vielen Herausforderungen im Land, die Gefahren für die Demokratie, begründet damit die erneute Forderung nach Aussetzen der Schuldenbremse. „Zuversicht macht man nicht mit dem Rechenschieber“, sagt er Richtung Kanzler. Der steht daneben und kratzt sich an der Nase.
Scholz geht an diesem Abend auf den Haushalt, über den er seit Wochen verhandelt, gar nicht groß ein, stattdessen spricht er über die Parlamentswahl in Frankreich, die am Sonntag in die zweite Runde geht. „Das ist dann eine weitere Wahl, bei der man sich Sorgen machen muss, wie geht sie aus.“ Man habe das auch in anderen europäischen Ländern gesehen. „In den Niederlanden etwa, wo die Regierung keine Nerven mehr hatte und Neuwahlen ausgerufen hat, weil sie sich nicht mehr mochte“, sagt Scholz und fügt in Richtung seiner Genossen hinzu: „Ist nicht gut ausgegangen.“