Zukunft der großen Koalition:Die SPD braucht jetzt gute Argumente

Ein überzeugender Abschied aus der großen Koalition kann der Partei nur gelingen, wenn sie inhaltliche Gründe dafür nennt. Die bisherige Bilanz der Bundesregierung liefert diese aber nicht.

Kommentar von Ferdos Forudastan

Wie unzufrieden mit sich selbst muss eine Partei sein, wenn sie so abstimmt? Wenn die Mehrheit der Teilnehmer am SPD-Mitgliederentscheid für einen ehemaligen NRW-Minister als künftigen Parteivorsitzenden votiert, der zwar landespolitisch versiert, bundespolitisch aber unbeschlagen ist und sich schon vor Jahren in den Ruhestand verabschiedet hatte? Dazu für eine selbst unter Sozialdemokraten weithin unbekannte Parlamentarierin ohne Erfahrung im Administrieren und Führen? Wie viel Vertrauen muss das Partei-Establishment in Gestalt von Olaf Scholz verspielt haben, wenn er, der Vizekanzler, Bundesfinanzmister und langjährige Inhaber hoher Regierungs- und Parteiämter zusammen mit Klara Geywitz eine demütigende Niederlage kassiert?

Walter-Borjans und Esken schlagen nach ihrem Sieg moderatere Töne an

So groß die Hoffnung der Anhänger von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken auf einen Neuanfang für die SPD auch sein mag: Es ist alles andere als gewiss, dass er aus dem Ergebnis folgt. Gewiss ist hingegen, dass das Ja von gut 100 000 Sozialdemokraten zu zwei linken Kritikern der großen Koalition diese außerordentlich gefährdet. In wenigen Tagen wird der SPD-Parteitag Walter-Borjans und Esken an die Spitze der Sozialdemokratie wählen. Und er wird aller Voraussicht nach ziemlich hohe Hürden für den Fortbestand von Schwarz-Rot aufstellen - so hohe, dass selbst die vielen Befürworter eines Verbleibs der SPD in der großen Koalition an der Parteispitze, unter sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten und in Teilen der Basis möglicherweise nicht dagegen ankommen. So hohe, dass auch die Union bei allem Willen zum Machterhalt abwinken wird - zumal die CDU-Führung unter Annegret Kramp-Karrenbauer innerparteilich viel zu umstritten ist, um Forderungen der SPD nennenswert entgegenzukommen. Und zumal die Union sich mit Blick auf den gerade beschlossenen Haushalt theoretisch noch eine ganze Weile lang in einer Minderheitsregierung über Wasser halten könnte.

Walter-Borjans und Esken schlagen nach ihrem Sieg zwar moderatere Töne an als davor. Aber sie werden es, selbst wenn sie nun Angst vor der eigenen Courage bekommen sollten, schwer haben, die vielen der Groko überdrüssigen Genossen von einem Verbleib in der Regierung zu überzeugen. Und die ausstiegswilligen Jusos werden darauf pochen, dass sie es waren, die mit ihrer Wahlempfehlung für Walter-Borjans und Esken dem Duo den Weg an die Parteispitze erleichtert haben. Gründe, die Groko zu verlassen, sind das natürlich keineswegs. Ein überzeugender Abschied aus der Regierung würde den Sozialdemokraten nur gelingen, wenn sie dafür triftige Argumente beibrächten. Die bisherige Bilanz der großen Koalition liefert diese Argumente nicht. Dafür hat die SPD, unter anderem in der Renten- oder Familienpolitik, einfach zu viel durchgesetzt.

Die SPD dürfte den Ausstieg aus der Regierung nicht psychologisch, sie müsste ihn politisch begründen

Schon richtig, Union und SPD sollten den Koalitionsvertrag im Lichte der schwächelnden Konjunktur überprüfen und aktualisieren. Und natürlich wäre es wünschenswert, den Klimaschutz zu verbessern oder den Mindestlohn heraufzusetzen. Aber die SPD wird nicht alleine mit Verweis auf veränderte Wirtschaftsdaten vermitteln können, warum sie zwar 2018 dem Koalitionsvertrag zugestimmt hat, 2019 jedoch auf gewichtigen Nachbesserungen besteht. Außerdem würde sie kaum darlegen können, wieso es trotz der weltpolitischen Lage, trotz Trump, Brexit oder Kriegsgefahr im Mittleren Osten richtig wäre, die Regierung demnächst platzen zu lassen - und das kurz bevor Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Psychologisch betrachtet spricht zwar viel dafür, schon vor der nächsten Bundestagswahl einer Konstellation den Rücken zu kehren, die die Partei allmählich auszehrt. Allein, die SPD dürfte diesen Schritt nicht psychologisch, sie müsste ihn politisch begründen. Nur wenn ihr das gelänge, wofür bisher nichts spricht, würde ein vorzeitiger Ausstieg sie nicht weitere Wählerstimmen kosten, wäre er mehr als Balsam auf die wunde Seele der Partei.

Ja, die drei großen Koalitionen seit 2005 gehören zu den Ursachen für die existenzielle Krise der Sozialdemokratie. Das im langen Regieren mit der Union verwischte Profil der SPD ist ein Grund für etliche Wahlniederlagen und Umfrageergebnisse von derzeit unter 15 Prozent. Hinzu kommt aber, dass sich traditionelle Milieus der Sozialdemokraten auflösen. Hinzu kommt die anhaltende Enttäuschung früherer Wähler über die Agenda 2010. Hinzu kommt die Konkurrenz von Grünen und Linkspartei. Hinzu kommt die fatale Eigenschaft der SPD, eigene Schwächen und Niederlagen großzureden, eigene Stärken und Siege gering zu schätzen.

Gegen manche Entwicklungen zu ihren Lasten ist die SPD machtlos. Andere könnte sie hier und da in ihrem Sinne beeinflussen, falls sie noch an sich und die eigene Regierungsfähigkeit glaubte. Zumindest Letzteres ist spätestens nach diesem Wochenende zweifelhaft.

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