Die lange Geschichte der SPD erinnert an das Märchen von den Sterntalern; nur der Schluss ist anders. Im Märchen der Gebrüder Grimm ist es so: Nachdem das arme Mädchen alles hergegeben hatte, was es noch besaß, fielen die Sterne vom Himmel, und es waren lauter blanke Taler. Das arme Mädchen sammelte sie ein und war reich für sein Lebtag.
Bei der armen SPD ist es so: Nachdem sie fast alles hergegeben hat, was für sie wichtig gewesen ist, fallen nun, wie im Märchen, Sterne vom Himmel - aber die Partei ist zu blöd und zu zerstritten, sie aufzuheben. Sie überlässt das der Linkspartei.
Jede Nachrichtensendung könnte ein Sterntaler sein: Die Finanzmärkte bröckeln, der Turbokapitalismus bankrottiert, gleichzeitig steigen die horrenden Einkommen der Großmanager weiter; das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist so verletzt wie lange nicht mehr. Andere Parteien, die Union, FDP oder die Grünen, müssen sich darauf erst einstellen. Die SPD ist eigentlich schon darauf eingestellt, kraft Tradition und Geschichte. Aber sie hat das und sich vergessen. Sie beschäftigt sich stattdessen damit, ob sie die Agenda 2010 in goldenes oder in schwarzes Papier einschlagen soll, bevor sie diese ins Regal stellt.
Die Verwirrung hat so vernünftige Menschen wie Außenminister Steinmeier angesteckt: Zur unsinnigen Debatte, ob der Kanzlerkandidat der SPD durch Mitgliederentscheid gewählt werden soll, erklärt er, dass vor Personaldiskussionen der Kurs der Partei bestimmt werden müsse.
Damit tut er so, als gäbe es noch keinen Kurs. Hat die SPD nicht vor fünf Monaten ein neues, sozial gefärbtes Grundsatzprogramm verabschiedet? Wäre es jetzt nicht auch Steinmeiers Angelegenheit, dieses in ein politisches Alltagsprogramm zu übersetzen? Die SPD steht vor der Sterntaler-Aufgabe, aus der emotionalen Mehrheit für eine im weitesten Sinn sozialdemokratische Politik eine regierungsfähige Mehrheit zu machen. Die Aufgabe sieht, angesichts der Umfragewerte, unlösbar aus. Es gab indes schon schwierigere Aufgaben für die SPD: In der längsten Zeit ihrer Geschichte war sie von jeglicher Mehrheit weit entfernt.
Mitgliederbefragung: Vorsicht, Scharping-Effekt
Das Problem der SPD ist aber mit einer Mitgliederbefragung noch weniger zu lösen als 1993. Damals wurde der Parteichef auf diese Weise gekürt; es war Scharping; der weitere Gang der Dinge ist bekannt. Eine Abstimmung, diesmal über den Kanzlerkandidaten, wäre Nonsens: Wer sollte gegen Parteichef Beck, wenn er wirklich will, antreten? Und wenn allein über ihn abgestimmt würde, wäre jedes Ergebnis unter 90 Prozent eine Niederlage. Wenn Beck aber gar nicht als Kandidat antritt (und er wird es nicht tun), kommt eh nur Steinmeier in Frage.
Beck wird nicht antreten, weil er Parteichef bleiben will. Würde er selbst als Kanzler kandidieren, ginge ihm bei einer Niederlage in der Bundestagswahl auch der Parteivorsitz verloren. Für die SPD wäre das schlecht, weil Beck einen Blick für die Sterntaler hat. Sammeln kann er sie am besten zusammen mit Steinmeier.