Spardiktat Südeuropa:Sie empören sich

Anonymous Protest

Bekanntes "Gesicht" des Protests: Ein Demonstrant als Anonymous 

(Foto: Getty Images)

Von Beppe Grillo bis zu Occupy Madrid: Die Protestbewegungen gegen das Spardiktat in den Ländern Südeuropas könnten kaum unterschiedlicher sein. Gemeinsam haben sie, dass sie alles ablehnen, was nach Partei aussieht. Eine Chance in der Politik haben sie trotzdem verdient.

Von Sebastian Schoepp

Einer der ergreifendsten Momente der europäischen Schuldenkrise hat sich vor kurzem im portugiesischen Parlament abgespielt. Als Ministerpräsident Pedro Passos Coelho ansetzen wollte, die neuesten Spar-Grausamkeiten zu verkünden, erklang plötzlich leiser Gesang von der Zuschauertribüne. Er brachte nicht nur Passos Coelho, sondern auch die energische Stimme der Parlamentspräsidentin zum Schweigen, die anfangs nachhaltig um Ruhe gebeten hatte.

Mit wachsendem Selbstbewusstsein sangen die Zuschauer "Grândola, Vila Morena", das Lied der portugiesischen Nelkenrevolution, die 1974 die Diktatur stürzte und das seitdem so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne des Landes ist. Die zentrale Zeile lautet "O povo é quem mais ordena": Nun regiert das Volk. Verlegen zappelnd und mit zerknirschtem Grinsen ließ der konservative Passos Coelho die revolutionäre Nostalgieaufwallung passieren. Wohl wissend, dass in Portugal derzeit niemand weniger regiert als das Volk.

Die Zuschauer sangen, weil sie wie viele Südeuropäer die in Brüssel und Berlin erdachten Sparprogramme als fremdes Diktat empfinden, das von willfährigen Marionetten wie Passos Coelho widerstandlos umgesetzt werde. Doch wohin mit der Wut? Die Art und Weise, wie sie sich politisch kristallisiert, könnte kaum unterschiedlicher sein in den einzelnen Ländern.

In Griechenland hat die Euro-Krise zu einer Wanderungsbewegung der Wähler nach extrem links und rechts geführt, eigentlich die konventionellste Ausdrucksform des Protests im unkonventionellsten Land der Euro-Zone. Krisenmüde Portugiesen singen nostalgisch-traurige Revolutionslieder, während eine Mehrheit der Italiener aus Trotz den Antipolitiker Beppe Grillo wählt - und natürlich Silvio Berlusconi. Wobei dieser auch über eine reiche Stammwählerschaft verfügt, die ihr eigenes Handeln und ihr fehlendes Staatsbürgerverständnis durch die Eskapaden des Regierungschefs legitimiert sieht.

Spanien protestiert online

Einzig auf der iberischen Halbinsel hat bisher kein Politiker von der wachsenden Unzufriedenheit profitieren können, außer den Separatisten in den Randgebieten Katalonien und Baskenland. Spaniens und Portugals Protestbewegungen sind erklärtermaßen anti-parteipolitisch. Ihr Gesicht ist, dass sie keines haben und keines wollen. Vor allem in Spanien, dem Ursprungsland der Occupy-Bewegung, drückt sich der Protest fast ausschließlich über die häufigen Demonstrationen und vielfältige Darstellungsformen in sozialen Netzwerken aus.

In keinem anderen Land haben sozial motivierte Internetplattformen eine solche Reichweite, ihre Anhänger gehen in die Hunderttausende, die klassischen Medien können nicht mehr mithalten. Eine Rücktrittsforderung an Ministerpräsident Mariano Rajoy von der korruptionsgeschüttelten konservativen Volkspartei (PP) wurde kürzlich von anderthalb Millionen Menschen unterschrieben, ohne dass sich irgendein bekanntes Gesicht in den Dienst der Sache gestellt hätte.

Dass diese Bewegung ohne Leitfiguren auskommt, heißt nicht, dass sie einflusslos wäre. Die Bewegung gegen Zwangsräumungen von Wohnungen erreichte durch massiven Druck, dass das Parlament in Madrid das Problem diskutierte und die Regierung Gesetzesänderungen in die Wege leitete, die hochverschuldete Menschen besser vor dem Zugriff der Banken und dem Absturz in die Obdachlosigkeit schützen soll.

Spontane Formen zivilen Widerstands

Es ergeben sich spontane Formen zivilen Widerstands, etwa der Feuerwehrleute in Madrid und anderen Städten, die sich weigern, bei Zwangsräumungen mitzuwirken. Das ist keine Abkehr von Legalität und Demokratie, sondern es zeugt von einem extrem ausgeprägten, basisdemokratischen Willen zur Mitbestimmung. So wie von dem eben verstorbenen Stéphane Hessel gepredigt, dessen Aufruf "Empört Euch!" nirgends so viele Menschen folgten wie in Spanien.

Der bislang einzige Versuch, den spanischen Protest zu personalisieren, schlug fehl. Es war die junge Sozialistin Beatriz Talegón, die vor einigen Wochen sehr mutig das Treffen der sozialistischen Internationalen in Portugal aufmischte, als sie in einer vielbeachteten Brandrede kritisierte, dass die Sozialisten von behäbigen Treffen in Fünf-Sterne-Hotels aus schwerlich die Welt verändern könnten und gerade eine historische Chance verpassten. Für diese Analyse wurde sie weithin gelobt, vor allem in sozialen Netzwerken. Flugs war sie Stargast aller Tertulias, wie in Spanien die politischen Talkshows heißen.

Viele Beobachter - und wohl auch sie selbst - sahen die forsche Jungsozialistin daraufhin schon als eine Art neue Pasionaria der Protestbewegung, zudem als Hoffnungsträgerin der verbrauchten Sozialistischen Partei, die den ebenso verbrauchten Konservativen seit Ausbruch der Krise nichts entgegenzusetzen hat. Doch weit gefehlt. Bei einem Auftritt auf einer Demo gegen Zwangsräumungen wurde Talegón ausgepfiffen und beschimpft - als Vertreterin eines Systems, von dem viele Menschen einfach nichts mehr hören wollen.

Diese totale Erosion der Parteizugehörigkeit in einem Land, in dem sich die Menschen jahrzehntelang über ihre Parteizugehörigkeit definierten, ist vielleicht ein noch tiefergreifender Wandel als das Auftauchen des Antipolitikers Grillo in der italienischen Politik - die ja in der Vergangenheit auch schon von allerlei Clowns gekapert worden war, von Cicciolina bis Bettino Craxi.

Noch ist nicht abzusehen, ob auf den Plätzen und in den Foren der Funke für ein neues Spanien glimmt; oder ob in Grillos Haufen nicht doch der eine oder andere sitzt, der zu konstruktiver Sachpolitik bereit ist, die Italien nach vorne bringt. Man sollte dieser Protestgeneration jedoch die Chance geben, etwas Eigenes zu entwickeln, anstatt sofort wieder nach einem technokratischen Statthalter zu rufen, der Brüssels Willen durchsetzt. Das erzeugt nur weitere und irgendwann womöglich richtig böse Clowns.

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