"Die Menschen merken, dass ihre Leben sich in Luft auflösen. Wenn die Empörung beginnt, können sie schon nicht mehr", sagte Miguel Ángel Martínez in der Erregtheit jener Tage, in denen die "Spanische Revolution" mit einem Hashtag in den sozialen Medien und einem Protestcamp an der Puerta del Sol in Madrid begann. Martínez, Aktivist mit einem Doktor in Soziologie, wurde damals von einem Reporter der Zeitung El País befragt, der sich im Camp umhörte. Zehn Jahre ist das nun her.
Am 15. Mai 2011 begannen in Spanien die Proteste der "Indignados", der Empörten. Von der Hauptstadt aus breitete sich die Wut auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse binnen weniger Tage im ganzen Land aus. Die Demonstranten in Madrid und ihre spontane Besetzung der Puerta del Sol im Stadtzentrum wurden zum Vorbild für andere, erst für die "Empörten des Syntagma-Platzes" in Athen, dann für die Bewegung Occupy Wall Street, der es sogar gelang, prominente Fürsprecher wie Nancy Pelosi zu gewinnen.
"Wir sind keine Systemfeinde, das System ist uns gegenüber feindlich", lautete einer der Slogans der Demonstranten in Madrid. Hunderttausende gingen damals auf die Straße, vier Wochen lang blieb die Puerta del Sol besetzt. Die Proteste formulierten eine Radikalkritik, ihr Selbstverständnis jedoch war pazifistisch. Die Demonstranten, viele von ihnen gut ausgebildet und dennoch ohne Perspektive, forderten nicht weniger als eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft. Was haben sie erreicht? Was ist geblieben von Aufbruch und Empörung?
Miguel A. Martínez, jener junge Mann von der Puerta del Sol, der dem Reporter damals die Wut der Demonstranten erklärte, ist heute Professor für Soziologie an der Universität Uppsala in Schweden. Im Zoom-Interview erzählt er seinen Lebensweg, der typisch ist für die Aktivisten von damals, auch weil er ihn 2013 ins Ausland führte. "Es gab einfach keine Jobs in Spanien", sagt Martínez heute. Mehr als eine Million junge Spanier verließen damals ihre Heimat. Martínez, Jahrgang 1970, gehörte an der Puerta del Sol zu den Veteranen: Er war schon vorher in der Hausbesetzerszene und in nachbarschaftlichen Kulturzentren aktiv; doch auch ihn machte die Stimmung, die im Frühjahr 2011 das Land erfasst hatte, euphorisch.
Die Partei Podemos ist das sichtbarste Erbe der Bewegung
"Im Camp kamen Menschen unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen zusammen; alle einte, dass sie etwas verändern wollten", sagt Martínez. Was genau? Das Zwei-Parteien-System aus Sozialisten und Konservativen, die sich in stetem Reigen an der Macht abwechselten, aber in ihren Korruptionsaffären immer austauschbarer wirkten. Die Austeritätspolitik, die Spanien von der EU-Troika aufgedrängt wurde und zum Abbau des Sozialstaats führte. Die Macht der Banken, die Menschen von einem Tag auf den anderen obdachlos machte. Kurz: das Gefühl, ausgeliefert zu sein.
Martínez gehörte damals zum innersten Zirkel. "Ich war jeden Tag an der Puerta del Sol, es war alles sehr intensiv", erzählt er. Als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Complutense-Universität in Madrid engagierte er sich in einer Gruppe linker Wissenschaftler, zu der auch der Politikwissenschaftler Pablo Iglesias gehörte. Iglesias sollte bald zum Gründer und Vordenker einer neuen Partei werden, die unmittelbar aus den Protesten des 15. Mai hervorging: Podemos, mittlerweile Unidas Podemos, ist bis heute ihr sichtbarstes Erbe.
"Podemos ist es gelungen, das Zwei-Parteien-System aufzusprengen", sagt Martínez, der noch immer Podemos-Mitglied ist, zumindest auf dem Papier. Die Formation holte 2014 bei der Europawahl aus dem Stand knapp acht Prozent. Ihr Erfolg trug sie noch weiter: Seit Anfang 2020 regieren in Spanien die Sozialisten in einer Koalition mit Podemos, Martínez' alter Freund Iglesias wurde stellvertretender Regierungschef. Eine steile Karriere für einen Aktivisten mit Pferdeschwanz.
Doch nun ist Iglesias' Aufstieg Geschichte: In der vergangenen Woche verkündete der 42-Jährige seinen Rückzug aus der Parteipolitik. Er könne nicht mehr dazu beitragen, dass die Bewegung in den kommenden Jahren ihre institutionelle Kraft ausbaue. Zu oft sei er zum Sündenbock gemacht worden, sagte Iglesias in einer bitteren Abschiedsrede. Viele interpretieren den Rückzug als Konsequenz aus dem Debakel bei der Regionalwahl in Madrid.
Iglesias hatte seinen Ministerposten aufgegeben, um als Spitzenkandidat "den Faschismus" zu bekämpfen. Womöglich wollte er zum zehnten Jahrestag der Mai-Proteste auch an die Aufbruchsstimmung von damals anknüpfen. Gelungen ist es ihm nicht: Podemos holte enttäuschende sieben Prozent. Iglesias, den immer noch viele mit den Protesten an der Puerta del Sol verknüpfen, musste einsehen, dass er seiner Partei mehr schadet als nützt.
Spanien steht heute erneut am Rand einer Wirtschaftskrise; den Prognosen zufolge dürfte sie weit schlimmer ausfallen als die letzte. Doch von einer neuerlichen Formierung gesellschaftlichen Widerstands ist wenig zu spüren. Viele empfänden die neue Krise, ausgelöst durch die Pandemie, als höhere Gewalt, so Martínez. Für den Soziologen haben die Mai-Proteste vor zehn Jahren dennoch Folgen, die Spaniens Gesellschaft langfristig prägen. Es sei ein Erweckungserlebnis gewesen, sagt Martínez und zieht Parallelen zur 68er-Bewegung: "Anders als in anderen europäischen Ländern haben sich Spaniens Konservative nie vom Faschismus losgesagt; auf diese historische Ausnahme machten die Proteste aufmerksam, sie holten sie aus der Verdrängung."