Der ganzen Europäischen Union habe Spaniens Premier Pedro Sánchez in dieser Woche die Tür vor der Nase zugeschlagen. So zumindest beschreibt es sein konservativer Herausforderer Alberto Núñez Feijóo. Der spanische Regierungschef hat am Montag auf das desaströse Wahlergebnis seiner sozialistischen Partei bei den Kommunal- und Regionalwahlen reagiert und die Auflösung des Parlaments sowie Neuwahlen angekündigt. Aus Sicht von Brüssel ist insbesondere der Wahltermin brisant: Der fällt aufgrund der Fristen, die die spanische Verfassung vorsieht, auf den 23. Juli - und damit in die ersten Wochen der spanischen EU-Ratspräsidentschaft.
Spanien übernimmt am 1. Juli turnusgemäß den Vorsitz, dann haben Sánchez und seine Regierung die Aufgabe, Schwerpunkte für die Arbeit der 27 Mitgliedstaaten zu benennen und Kompromisse vorzubereiten. Im zweiten Halbjahr 2023 stehen weitere Sanktionsrunden gegen Russland an, große Umwelt- und Klimagesetze und vor allem neue Regeln für den Umgang mit Flüchtlingen. Es bleibt wenig Zeit, denn wenn im Januar Belgien die Ratspräsidentschaft übernimmt, läuft bereits der Countdown zur Europawahl im Juni 2024. Spanien aber könnte nun vorübergehend handlungsunfähig sein, möglicherweise gibt es monatelang keine sprechfähige Regierung.
Spanien konnte bei der Postenvergabe in Brüssel kräftig mitmischen
Wie Spaniens künftige Regierung nach der Wahl aussieht, ist von großer Bedeutung für die Machtverhältnisse in der EU. Pedro Sánchez gewann 2019 nach der nationalen Wahl auch die Europawahl in Spanien, deshalb konnte er kräftig mitmischen, als in Brüssel die Posten vergeben wurden. Den Vorsitz in der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament erhielt Parteifreundin Iratxe García Pérez, der Job des EU-Außenbeauftragten fiel an Parteifreund Josep Borrell. Gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verhinderte Sánchez zudem den CSU-Politiker Manfred Weber als Kommissionspräsidenten und brachte stattdessen Ursula von der Leyen ins Amt.
Manfred Weber hat als Chef der Europäischen Volkspartei also ausreichend Motivation, sich im spanischen Wahlkampf für den EVP-Kollegen Alberto Núñez Feijóo einzusetzen. Er forderte nun, einen für Juli geplanten Auftritt von Sánchez im Europaparlament abzusagen. Das spanische Programm für die Ratspräsidentschaft solle im September der neue Regierungschef vortragen - der aus Webers Sicht Feijóo heißen sollte. Sánchez verzichtete am Freitag von sich aus auf den Auftritt, was Weber bestimmt gerne hörte.
Die Wahl in Spanien birgt aber auch Gefahren für den Bayern: Feijóo könnte ein Bündnis mit der rechtsextremen Vox eingehen. Weber versucht, die Machtbasis der EVP zu erweitern, aber schon seine Annäherung an die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni hat ihm viel Kritik aus den deutschen Unionsparteien eingetragen.
PP-Chef Feijóo kann nach den Kommunal- und Regionalwahlen kaum irgendwo ohne Vox regieren. Er betonte an diesem Donnerstag, sein Verhältnis zu Vox-Chef Santiago Abascal sei, auch wenn beide ein "unterschiedliches politisches Projekt" verfolgten, von "absoluter Herzlichkeit". Laut Umfragen stehen die Chancen hoch für ein Bündnis der beiden Parteien nach der Wahl im Juli.
Das Land sucht in der Migrationsfrage eine Einigung mit Frankreich
Was eine rechte Regierung für die EU-Ratspräsidentschaft bedeuten würde, sei schwer abzusehen, weil die Opposition bisher weniger mit Themen als mit Angriffen auf Sánchez Wahlkampf gemacht habe, sagt der spanische Politologe José Ignacio Torreblanca. Eine gravierende Neuausrichtung Spaniens sei aber nicht zu erwarten. Beispiel Migration: Vox hat wiederholt versucht, aus dem Thema Kapital zu schlagen, doch Stimmen gewinnt sie damit höchstens punktuell. Spanien setzt auf unkomplizierte Integration und ermöglicht es Migranten vergleichsweise schnell, einen Aufenthaltstitel zu erhalten. Es fungiert allerdings für die meisten Menschen aus Afrika eher als Transitland auf dem Weg nach Frankreich.
Eine Aufgabe auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik ist es daher, zu einer Einigung mit Frankreich zu gelangen, das mehrere Grenzposten in den Pyrenäen zuletzt immer wieder monatelang geschlossen hielt. Aus Sicht Spaniens muss sich das ändern - hier haben Sánchez und Feijóo ähnliche Interessen. Ebenso wie in der Zusammenarbeit mit Marokko, einem der wichtigsten Transitländer in Richtung Europa: Sánchez hat zuletzt eine Verbesserung der Beziehungen erwirkt - und für die Zugeständnisse, die er Marokko im Gegenzug machte, zu Hause heftige Kritik geerntet. Dass die Konservativen das Verhältnis zu Marokko anders gestalten als Sánchez, sei indes nicht zu erwarten, sagt Politologe Torreblanca. Er erwartet eine "stark politisierte" spanische Ratspräsidentschaft.
Für die EU wäre das nichts grundlegend Neues. Im ersten Halbjahr 2022 wurde auch die Präsidentschaft Frankreichs vom Wahlkampf überlagert. Damals versuchte Emmanuel Macron, sich seinen Landsleuten als Europastaatsmann zu präsentieren. Er ließ sogar am Triumphbogen die Europaflagge hissen - geholfen hat es ihm nicht, im Gegenteil. Seine Umfragewerte fielen, Macron wirkte noch abgehobener als zuvor. Um die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, musste er herunter von der europäischen Bühne.
Im durch und durch pro-europäischen Spanien dürfte das anders sein. Nicht einmal Vox formuliert Austrittsfantasien, sondern wirbt für ein "Europa der souveränen Nationen". Entsprechend gern hätte sich Sánchez während der Präsidentschaft mit den Regierungschefs anderer Länder inszeniert. Der Premier punktet oft mit seiner Weltläufigkeit - zumal im Vergleich mit seinem Herausforderer Feijóo, der nicht einmal Englisch spricht.
Nun musste Sánchez in Brüssel erst einmal die Wogen glätten. Sein Landwirtschaftsminister Luis Planas versicherte diese Woche, Spanien werde seinen Pflichten vollumfänglich nachkommen. Es gibt aber auch Beobachter, die eine gewisse Rücksichtslosigkeit darin sehen, dass Sánchez die Wahl vorgezogen hat. Eine Wahl am Anfang der Ratspräsidentschaft, heißt es unter Brüsseler Diplomaten, sei "ein Rezept für Chaos".