Süddeutsche Zeitung

Spanien:"Medizinische Behandlung zu verweigern, ist eine Straftat"

Politiker streiten über die außerordentlich hohe Zahl von Corona-Toten in Altenheimen, die nun zu einer Prozesswelle führen könnte.

Von Sebastian Schoepp

In Spanien ist ein heftiger politischer Streit über die Verantwortung für die vielen Corona-Toten in den Altenheimen entbrannt. Mitte März wurde die tödliche Lungenkrankheit vor allem in den Seniorenheimen festgestellt, sie breitete sich dort mit großer Geschwindigkeit aus. Fast 20 000 der bislang 27 136 Corona-Opfer in Spanien starben in Alten- und Pflegeeinrichtungen - der Anteil ist so hoch wie in keinem anderen Land Europas. Angehörige erheben schwere Vorwürfe gegen Regierung und Krankenhäuser. Es steht der Vorwurf im Raum, alte Menschen seien nicht behandelt worden, man habe sie einfach mit der Virusinfektion sterben lassen.

Die Zeitung El País hat Papiere und E-Mail-Protokolle veröffentlicht, die nahelegen, dass Gesundheitsbehörden der Regionalregierungen - etwa die der besonders betroffenen Region Madrid -, die Anweisung erteilt hätten, Krankenhäuser sollten Menschen mit Vorerkrankungen nicht aufnehmen. Die Vorsitzende des spanischen Patientenschutzverbands, Carmen Flores, forderte, die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden: "Menschen die medizinische Behandlung zu verweigern, ist in Spanien eine Straftat." Tausende seien "einen unwürdigen, vielleicht unnötigen Tod gestorben". Ihr Verband forderte die Staatsanwaltschaft auf, Ermittlungen aufzunehmen.

Die Heime rechtfertigen sich, die Politik habe sie alleingelassen und keine Ausrüstung geschickt

Bereits im März hatte die BBC berichtet, Mitglieder der Unidad Militar de Emergencias (UME), also des medizinischen Notfalldienstes der Armee, hätten in Altenheimen Tote gefunden, anscheinend seien die Menschen zuvor sich selbst überlassen worden. Immer wieder gab es Medienberichte, wonach Ambulanzen gar nicht erst ausgerückt seien, wenn ein Altersheim angerufen habe. Die Heime rechtfertigen sich, die Politik habe sie alleingelassen. Sie hätten auch keine medizinische Ausrüstung gehabt oder bekommen.

José Augusto García Navarro, Chef der spanischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, hingegen sagte, es habe keine Vernachlässigung alter Menschen gegeben. Jede mögliche Verlegung sei individuell betrachtet worden. Wenn man Menschen oft nicht in Krankenhäuser gebracht habe, dann deswegen, weil das Krankenhaus für sie schlimmer gewesen wäre, als im Altersheim zu bleiben.

Laut García Navarro leidet mehr als die Hälfte der Altersheimbewohner unter Verwirrtheitszuständen. Es sei in vielen Fällen besser gewesen, die Menschen in ihrer täglichen Routine zu belassen, als ihnen eine Verlegung zuzumuten, vor allem angesichts des "Kollaps" in vielen Krankenhäusern zu Beginn der Pandemie. Wenn 200 Menschen in der Notaufnahme warteten, könne man die Alten nicht auf "die menschliche Weise versorgen, die sie brauchen".

Vizeregierungschef Pablo Iglesias hat den Fall jedoch zu seinem Thema gemacht. Er will nun Altenheime - staatliche wie private - enger an den Staat binden. Das passt zu seiner Agenda einer Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems, das in Zeiten der konservativen Regierungen Spaniens stark privatisiert worden war.

Dahinter steckt ein heftiger politischer Streit. In vielen Regionen, die jetzt beschuldigt werden, regieren Parteien, die im nationalen Parlament der Opposition angehören. Die Autonome Region Madrid, die jetzt besonders im Fokus der Vorwürfe steht, etwa wird von der konservativen Volkspartei (PP) und der rechtsliberalen Bürgerpartei (Ciudadanos) regiert. Was dort geschehen sei, sei "ein echter Skandal, wenn nicht ein Verbrechen", sagte Pablo Iglesias. Er gehört der linksalternativen Partei Unidas Podemos an, die zusammen mit den Sozialisten Spanien regiert.

Die konservative Chefin der Regionalregierung, Isabel Díaz Ayuso, schlug zurück. Der Skandal sei eher die Art und Weise, wie Pablo Iglesias Öl ins Feuer schütte, sagte sie. Er politisiere den Schmerz der Angehörigen. PP und Ciudadanos geben den Vorwurf der Vernachlässigung an die Zentralregierung zurück, schließlich habe diese in der Pandemie durch den nationalen "Alarmzustand" alle Kompetenzen im Land an sich gerissen. Am Ende werden wohl Gerichte entscheiden müssen. Wegen der Fälle in den Altersheimen rollt angeblich eine Prozesswelle auf die Gesundheitsbehörden zu.

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SZ vom 15.06.2020
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