Süddeutsche Zeitung

Spanien:Die Familie ist stärker als die Krise

Viele Spanier haben in den vergangenen Jahren ihr Land verlassen, um anderswo Arbeit zu finden. Immer mehr kehren wieder zurück. Doch das hat nur wenig mit der besseren Konjunktur zu tun.

Von Miguel Helm

Zwei silberne Reisekoffer und eine kleine schwarze Handtasche. In ihnen steckt alles, was Jesús Vilasevil nach vier Jahren in Deutschland besitzt. Nur Kleidung, ein Kulturbeutel, sonst nichts. Der 43-Jährige Spanier, dessen dichtes schwarzes Haar von grauen Strähnen durchzogen ist, schleppt seine Sachen durch Terminal 1 des Münchner Flughafens. Heute ist sein letzter Tag in Deutschland. Vilasevil will zurück nach Spanien. So wie viele seiner Landsleute: Im vergangenen Jahr kehrten erstmals seit Beginn der Krise 2007 mehr Spanier heim, als aufbrachen.

Vilasevil sucht mit halb zu gekniffenen Augen einen Bildschirm, auf dem Madrid steht und das Gate, von dem er abfliegt. Er nimmt seine Brille ab, putzt sie mit seinem schwarzen T-Shirt in der linken Hand und setzt sie wieder auf. Mit der rechten Hand hält er seinen weinroten Pass mit drei Fingern fest, zwischen den feinen Seiten klemmen zwanzig 50-Euro-Scheine, tausend Euro. Es ist die Kaution seiner Wohnung in Deutschland, die er heute Morgen verlassen hat. Und gleichzeitig sind es seine einzigen Ersparnisse für den Neuanfang in der Heimat. In Deutschland habe er ganz okay verdient, sagt er. Es habe gereicht, um ohne Sorgen über die Runden zu kommen. Für DHL fuhr er in München und Umgebung Päckchen aus.

Besser als gar keine Arbeit. In Spanien hatte er wegen der Krise seinen Job als LKW-Fahrer verloren, war dann ein knappes Jahr arbeitslos - wie viele seiner Freunde in seiner Heimatstadt Toledo, die eine Autostunde von Madrid entfernt ist. Und wie viele seiner Freunde lebte er immer noch bei seinen Eltern und war von ihnen finanziell abhängig, mit Ende 30. Er fühlte sich nutzlos und wertlos, ja schuldig, weil seine Eltern für seinen Lebensunterhalt aufkommen mussten. In seiner vielen freien Zeit dachte er viel über sein Leben nach, hatte Geldsorgen und Existenzängste, strich mit seinem Hund durch die Straßen Toledos, machte viel Sport - schlug Zeit tot. Fast jeden Tag durchforstete er Jobportale nach neuen Angeboten, die es nicht gab.

In Spanien kam er aus der Arbeitslosigkeit nicht mehr heraus

Er bewarb sich trotzdem, dann halt initiativ. Es brachte nichts, auch seine Fortbildung, damit er größere LKW fahren kann, nicht. Er war verzweifelt - weil sich Spanien von der Krise nicht erholt hatte, zumindest nicht so, dass er davon profitieren würde und endlich wieder in Arbeit käme. Und so packte er 2013 seine Sachen und fuhr mit zwei Freunden von Toledo, einer hübschen Stadt mit Geschichte, eindrucksvollem Schloss und prächtiger Kathedrale ins niedersächsische Oldenburg. Dort arbeitete er fünf Monate auf einem Schlachthof, wo er den ganzen Tag kalte Putenbrust in klebriger Folie verpackte. Was er irgendwann nicht mehr aushielt und sich auf eine Stelle bei DHL in München bewarb.

Da lag die Wirtschaft Spaniens nach der Weltfinanz- und der Euro-Krise 2007 immer noch am Boden. Der Staat war hochverschuldet, viele Unternehmen pleite. Das traf vor allem vor allem die Jungen. Mehr als jeder zweite hatte keine Arbeit, man sprach von der generacion perdida, als hätte das Land eine ganze Generation der Krise geopfert. Viele von ihnen sind wie Jesús Vilasevil ins Ausland gezogen, wo sie sich bessere Perspektiven auf Arbeit und Wohlstand erhofften. Mehr als 700 000 Spanier zwischen 24 und 34 Jahren haben ihr Land seit Beginn der Krise vor zehn Jahren verlassen. Das ist mehr als jeder Zehnte in der Altersgruppe.

Vor allem in mittelgroßen Städten haben sie keine Zukunft mehr gesehen, wie in Valladolid im Zentrum Spaniens. Mehr als 80 Prozent der Uniabsolventen sind seit Beginn der Krise ins Ausland abgewandert. Anfang dieses Jahres hat die Stadtverwaltung ein Projekt gestartet, um die jungen Emigranten wieder zurückzuholen. Es heißt "Retorno al talento", Rückkehr des Talents. Eine halbe Million Euro soll an Unternehmen vor Ort gehen, damit sie spanische Fachkräfte aus dem Ausland wieder einstellen. Die 300 000 Einwohner-Stadt übernimmt im ersten Jahr 70 Prozent des Gehalts der Rückkehrer und im zweiten dreißig Prozent. Warum? Man wolle die Stadt vor der Vergreisung bewahren, heißt es im Rathaus. Bislang ist das Projekt in Spanien einmalig, aber einige Städte diskutieren über ähnliche Maßnahmen.

Plötzlich sind Jesús Vilasevils Augen feucht, die Stimme bricht, Vilasevil weint. Was er jetzt fühlt, so kurz vor der Abreise? Er hat seine Familie sehr vermisst, muchísimo, die ganze Zeit, todo el tiempo. Seinen Vater, seine Geschwister und seine drei Nichten. Und jetzt will er einfach wieder zurück, bei ihnen sein. Nicht nur an Weihnachten, wie in den letzten Jahren, sondern immer. Seine Familie ist für ihn das Größte auf der Welt, das wichtigste. In seinen einsamen Stunden in Deutschland dachte er oft an sie, er litt darunter, sie nicht sehen zu können. An seinen Geburtstagen wäre er fast daran zerbrochen - "diese Einsamkeit!" Die Familie, sie ist der eigentliche Grund, warum er jetzt am Flughafen ist und zurückfliegt. Vilasevil hofft, sie nie wieder verlassen zu müssen.

"Es ist schwer, einem Deutschen zu erklären, was Familie für uns bedeutet", sagt auch der Spanier Raúl Gil Benito, der vier Jahre in Berlin gelebt hat. Die Bindung zwischen Eltern, Großeltern und Kindern sei bei sehr vielen Spaniern eng und stark. In der Krise habe die Familie sogar den Sozialstaat ersetzt. So hätten viele Großeltern mit ihrer Rente die ganze Familie ernährt, weil die anderen arbeitslos gewesen seien oder zu wenig Geld verdient hätten. Der 42-jährige hat mit zwei Freunden die Plattform Volvemos gegründet - übersetzt heißt das "Wir kehren zurück". Sie soll Spaniern im Ausland die Rückkehr in die Heimat erleichtern. Mehr als 7 000 Menschen haben bereits ihr Profil, samt Lebenslauf, Bildungsabschlüssen und Sprachkenntnissen, auf volvemos.org eingetragen. Benito und sein Team vernetzen die Rückkehrwilligen mit Unternehmen in Spanien. "Viele Firmen schätzen die Auslandserfahrung der Leute, die in der Krise gegangenen sind".

Jesús Vilasevil hatte eine Stelle als LKW-Fahrer in Madrid angeboten bekommen, schon im vergangenen Jahr. Er überlegte lange, wollte Deutschland noch eine Chance geben. Aber ein halbes Jahr später stand die Entscheidung: Er würde nach Spanien zurückgehen. Immer wieder fällt das Wort Volver. Vilasevil betont die letzte Silbe, rollt das R am Wortende stark, sodass seine Zunge fast schon schnalzt. Das Wort heißt "zurückkehren". Aber welche Gefühle er damit verbindet, lässt sich nicht übersetzen.

Es fehlten immer noch Arbeitsplätze, sagt Raúl Gil Benito, der in Madrid arbeitet. Aus der Krise heraus sei Spanien noch lange nicht. Auch wenn einige die Wirtschaftsdaten anders deuten. In den letzten zwei Jahren entstanden 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze. In diesem Jahr wird die Wirtschaft voraussichtlich um 2,5 Prozent wachsen - stärker als in den meisten EU-Ländern. Und auch die Exporte steigen seit Jahren stark an. Kommentatoren schreiben schon vom "spanischen Wirtschaftswunder". Der spanische Ministerpräsident wird für seinen Reformkurs von der EU quasi mit Lob überschüttet. Selbst der strenge deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bezeichnete Spaniens Fortschritte schon als "grandios". "Aber", sagt Benito, "viele Arbeitsverhältnisse sind prekär und sehr viele im Tourismus". Die Krise sei noch nicht vorbei, für das "verlorene Talent", wie er zu den ausgewanderten Spaniern sagt, gebe es in vielen Fällen noch keinen passenden Arbeitsplatz.

Viele Arbeitsverhältnisse sind nach wie vor prekär

Wer Arbeit findet, hat oft einen befristeten Vertrag. Das hat Folgen. 2,3 Millionen Spanier sind arm, obwohl sie arbeiten. Das geht aus einer im Mai veröffentlichten Studie der Unternehmungsberatung Accenture hervor. Die Arbeitslosenquote liegt bei 19 Prozent, bei den 15- bis 24-Jährigen ist sie doppelt so hoch. Der Aufschwung hat Makel.

Jesús Vilasevil steht mitten in der Warteschlange vor einer hübschen Iberia-Mitarbeiterin, die das Gepäck der Passagiere aufnimmt. Vor ihm ist eine Mutter, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, hinter ihm ein knutschendes älteres Pärchen, das sich gleich unter Tränen trennen wird. Weiter hinten stellt sich eine laute deutsche Reisegruppe an, die sichtlich euphorisch dem Spanien-Tripp entgegenfiebert. Es gibt nur wenige Orte, die emotionaler sind, die Menschen mehr zusammenbringen als die Vorhallen eines Flughafens.

Vilasevil aber ist alleine, ihn hat keiner zum Flughafen begleitet. Als der beleibte Spanier das ausspricht, knabbert er nervös an seinen Fingernägeln, die schon so kurz sind, dass es eigentlich nichts mehr zu knabbern gibt. Amigos, echte Freunde habe er hier in Deutschland nie gefunden, sagt er in einem Spanisch, das sehr verständlich ist, wenn er über Spaniens Politik, Wirtschaft und Gesellschaft spricht. Wenn er aber über sich redet und über seine Gefühle, dann säuselt er mit einem starkem madrilenischen Akzent. "Era mi culpa", es war seine Schuld, sagt er: dass er sich in Deutschland nie integriert habe, nicht gut Deutsch gelernt habe und keine Freunde gefunden habe, denen er so wichtig ist, dass sie ihm am Flughafen Adiós, Tschüß, sagen.

Vielleicht lag es tatsächlich an ihm. Vilasevil ist eher ein schüchterner Typ, der zwar gerne auf Frage antwortet, aber nur selten welche stellt. Und die Sprachbarriere konnte er auch nach vier Jahren hier nicht überwinden. Seine Sätze auf Deutsch sind kurz und reichen über Touristen-Vokabular ("Guten Tag, ich hätte gerne ein Bier") nicht hinaus. "Es hat einfach geklappt", sagt er. Irgendwann habe er es mit der Sprache aufgegeben. Dabei weiß er, dass Sprache der Schlüssel zur Integration ist. Um in Deutschland anzukommen. Wer Deutsch kann, kann über Fußball reden. Jesús Vilasevil ist ein großer Real Madrid-Fan und zuhause in Spanien spielte er auch selbst Fußball. Das hätte er auch hierzulande gerne gemacht. Aber er traute sich nicht, zum Training des TSV Allershausen zu gehen. Das Sportgelände des Vereins ist nur einige Minuten von seiner früheren Wohnung in der oberbayerischen Kleinstadt entfernt.

Nein, sagt Vilasevil entschlossen, seinen Aufenthalt in Deutschland bereue er nicht. Es war eine Erfahrung. Eine gute? Oder eher eine schlechte? Das weiß er nicht. Nur: "Mein Ziel ist es nicht wiederzukommen". Jesús Vilasevil lächelt, dreht sich um und geht zur Sicherheitskontrolle. Volver, das heißt für ihn jetzt nach Hause kommen.

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