Größer als das Chaos, das ab Sonntag in Spanien befürchtet wird, ist die Angst vor diesem Chaos. Am Sonntag endet der von Ministerpräsident Pedro Sánchez verhängte Alarmzustand. Er dauerte sechs Monate, von Anfang November bis Anfang Mai, und war die Gesetzesgrundlage für die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Sechs Monate lebten die Menschen in Spanien im Ausnahmezustand. Eigentlich Zeit genug, um sich auf dessen Ende vorzubereiten. Doch offenbar haben sowohl die spanische Zentralregierung als auch die einzelnen Regionalregierungen sie nicht ausreichend genutzt.
Nun warnen Epidemiologen vor steigenden Fallzahlen nach dem abrupten Ende des Ausnahmezustands. "Die Pandemie ist noch nicht vorbei", zitiert die Tageszeitung El País Mediziner, die befürchten, dass von diesem Stichtag ein falsches Signal ausgehen könnte. "Das Virus verbreitet sich weiterhin, und möglicherweise interpretieren es manche fälschlicherweise so, dass wir nun zur Normalität zurückkehren können", sagt Magda Campins, Expertin für Medizinische Prävention am Hospital Vall d'Hebron in Barcelona.
Aktuell liegt die Inzidenz laut Gesundheitsministerium bei knapp 90 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen; rund 20 Prozent der Intensivbetten sind landesweit mit Covid-Patienten belegt. Regional gibt es allerdings große Unterschiede: Nach wie vor die höchste Auslastung der Intensivbetten verzeichnet die Hauptstadtregion Madrid, wo derzeit mehr als 40 Prozent der Betten auf den Intensivstationen mit Covid-Patienten belegt sind. Hier liegt auch die Sieben-Tage-Inzidenz bei 135 Fällen, höher ist sie nur im Baskenland, das aktuell 212 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner verzeichnet. Gleichzeitig ist Spaniens Impfquote niedrig: Nur knapp neun Prozent der Bevölkerung haben bereits den vollen Impfschutz erhalten.
Wenn nun die rudimentären Regeln, die der Alarmzustand vorgegeben hat, wegfallen, liegt die Befugnis, über Maßnahmen zu entscheiden, wieder bei den Regionalregierungen. Und die verfolgen ganz unterschiedliche Strategien. Madrids Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso etwa hat gerade einen triumphalen Wahlsieg eingefahren, der - so kritisieren Beobachter - mit minimalen Maßnahmen und vielen Toten erkauft war.
"Wir Richter sind nicht dazu da, zu regieren"
Mindestens so groß wie das medizinische Risiko ist ab Sonntag allerdings das Risiko für Spaniens Institutionen. Denn der Alarmzustand gab nicht nur einige einheitliche Regeln vor, die spanienweit galten: eine allgemeine Maskenpflicht etwa, eine nächtliche Ausgangssperre und das Verbot, sich in Gruppen von mehr als sechs Personen zu treffen. Er stellte vor allem Rechtssicherheit für die Regionalregierungen der 17 Autonomen Gemeinschaften her, in die Spanien unterteilt ist.
Fällt diese Rechtssicherheit nun weg, droht Spanien von einer Klagewelle gegen einzelne Maßnahmen überrollt und die ohnehin stark ausgelastete Justiz blockiert zu werden. Die Regierung Galiciens etwa warnt bereits vor einer Überlastung der Gerichte und einer großen "Ungewissheit" für Regierende und Bürger. César Tolosa, Präsident der Verwaltungsgerichtskammer an Spaniens Oberstem Gericht, sagt: "Wir Richter sind nicht dazu da, zu regieren". Entscheidungen über Corona-Maßnahmen oblägen den gewählten Vertretern, es sei nicht richtig, diese nun den Gerichten aufzubürden.
Doch Spaniens Regierung bleibt dabei: "Der Alarmzustand ist für außergewöhnliche Situationen vorgesehen und nicht infinitum", sagte Gesundheitsministerin Carolina Darias. Sie gehe davon aus, dass die Maßnahmen, die die Regionen auf Basis der bestehenden Gesetzeslage erlassen können, ausreichend seien, um das Virus zu bremsen.
Je nach Region gibt es nun unterschiedliche Pläne für die Zeit ab Sonntag: Gerade beliebte Urlaubsregionen wie die Balearen oder Katalonien wollen vor allem die Regeln für private Treffen sowie die nächtliche Ausgangssperre aufrechterhalten, im Gegenzug aber Gastronomie und Einzelhandel offenhalten. Kantabrien, Galicien sowie Kastilien und León, drei Regionen im Norden, hingegen planen von Sonntag an sämtliche Einschränkungen aufzuheben. Mehrere Regionalregierungen hatten versucht, sich geplante Maßnahmen vorab von den Gerichten absegnen zu lassen. Allerdings verweigerten die Richter diese Entscheidungen. Nun fürchten viele ein ähnliches juristisches Chaos wie im vergangenen Sommer, als Gerichte in unterschiedlichen Regionen Maßnahmen ganz unterschiedlich bewerteten und zu Urteilen kamen, die sich teils widersprachen.
Sánchez hatte damals die Dauer der Corona-Krise unterschätzt und das Virus bereits im Juli für besiegt erklärt. Nachdem klar geworden war, dass von einer damals ausgerufenen "neuen Normalität" noch keine Rede sein konnte, verhängte er Anfang November den Alarmzustand, der bis heute gilt. Er ermöglicht es der Regierung laut Verfassung, Grundrechte zu beschneiden, um eine Krise zu überwinden.