Süddeutsche Zeitung

Spanien:Antwort auf die Hungerschlangen

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Die Regierung führt im Kampf gegen Corona-Armut eine Grundsicherung ein. Die Abstimmung im Parlament zeigt, wie ernst die Lage ist: Trotz der Zerstrittenheit der Parteien gibt es keine Gegenstimme.

Von Sebastian Schoepp, München

Jeden Morgen stellt sich Julián, ein 37 Jahre alter Madrilene, in die Hungerschlange vor der Essensausgabe Ave María, die die katholische Kirche im Zentrum der spanischen Hauptstadt betreibt. Julián lebte vor der Corona-Krise von Englisch- und Französischunterricht, wie er der BBC dieser Tage erzählte. Dann seien ihm wegen des Lockdowns von einem Tag auf den anderen alle Kunden weggebrochen: nicht nur wegen der Abstandsbeschränkungen, sondern auch, weil eben alle Spanier auf einmal vom Stopp des Wirtschaftslebens betroffen waren. An bezahlten Sprachkursen spart man dann zuerst.

Julían bekommt nach langer Warterei eine Tüte mit Brot, Obst, Joghurt, einem Sandwich und einer Dose Makkaroni in Tomatensoße. Das hilft gegen den Hunger, außerdem werde man hier nicht viel gefragt, wer man sei und woher man komme, sagt er. Das hilft gegen die Scham.

Damit die Menschen in der Krise nicht nur auf die Barmherzigkeit der Kirche und anderer Sozial- und Freiwilligendienste angewiesen sind, hat die sozialistisch geführte Regierung in Madrid jetzt eine Grundsicherung eingeführt. Am 26. Juni würden 75 000 Haushalte mit insgesamt 255 000 Personen im ganzen Land die erste Zahlung erhalten, hat der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez mitgeteilt. An diesem Mittwoch ging das Gesetz durch das Parlament - ohne Gegenstimmen, es gab lediglich 52 Enthaltungen. Die Einmütigkeit dieser Entscheidung für das ingreso mínimo vital ist angesichts der völligen Zerstrittenheit der Parteien fast eine Sensation. Das zeigt, wie ernst die Lage ist.

Die Grundsicherung ähnelt der deutschen Sozialhilfe nach Hartz IV, die es in Spanien bisher nicht gab. Nach Ende des Bezugs von Arbeitlosengeld standen die Menschen in der Regel mittellos da und waren auf Familienhilfe angewiesen. Die hat die Spanier in früheren Krisen, etwa nach dem Platzen der Immobilienblase in den frühen Zehnerjahren, vor dem Schlimmsten bewahrt. Doch an der Corona-Pandemie scheitert selbst diese Form der Notversorgung: In vielen Familien verdient niemand mehr Geld.

Zwei Branchen leiden besonders unter der Pandemie: Tourismus und Autoindustrie

Ausdruck dieses Zustandes sind die "colas de hambre", die Hungerschlangen. Es gibt sie in allen großen Städten Spaniens, sie sind das sichtbarste Zeichen der Krise geworden. Dort stehen Einwanderer, sozial schwache Familien, ehemalige Kellner, pleitegegangene Barbesitzer, alleinerziehende Mütter und junge Akademiker wie Julián. Kilometerlang ziehen sich manche dieser Schlangen hin.

Die neuen Hilfen betragen zwischen 462 und 1015 Euro pro Monat, je nach Zusammensetzung und Größe des Haushalts. Anspruch darauf haben Personen zwischen 23 und 65 Jahren, die seit mindestens drei Jahren einen selbständigen Haushalt führen, mindestens ein Jahr sozialversicherungspflichtig waren und deren Einkommen pro Person im Haushalt unter 230 Euro im Monat liegt. Ministerpräsident Sánchez betonte: "Mehr als die Hälfte der Begünstigten werden Minderjährige sein."

Die neue Grundsicherung war Teil des Koalitionsvertrages zwischen den Sozialisten und den Linksalternativen von Unidas Podemos, die diese Forderung im Wahlkampf im vergangenen Jahr vertreten hatten. Die Sozialisten waren zuerst skeptisch gewesen, weil sie Einwände aus Brüssel erwarteten. Sie fürchteten erklären zu müssen, woher die 3,5 Milliarden Euro für die neue Lebenshilfe kommen sollen angesichts einer zusammenbrechenden Wirtschaft und ausbleibenden Steuereinnahmen. Doch das Hungerproblem beschleunigte die Beschlussfassung. Die Regierung geht davon aus, dass 850 000 Haushalte Anspruch auf die neuen staatlichen Hilfen haben werden. Das entspricht etwa 2,3 Millionen der knapp 47 Millionen Einwohner Spaniens.

Das Bruttoinlandsprodukt Spaniens wird dieses Jahr wegen der Pandemie nach Schätzung der Regierung um mehr als neun Prozent schrumpfen. Erwartet wird zudem ein Anstieg der Arbeitslosenrate von 13,8 Prozent Ende 2019 auf 19 Prozent in diesem Jahr. Insgesamt sind der Corona-Krise bislang rund 760 000 Arbeitsplätze zum Opfer gefallen. Hunderttausende Menschen wurden vorübergehend freigestellt, Entlassungen waren während des Alarmzustands verboten. Doch da in Spanien Zeitverträge die Regel sind, ist das leicht zu umgehen: Die Verträge werden einfach nicht verlängert.

Zwei Branchen leiden besonders: der Tourismus und die Autoindustrie. Spanien hat die größte Zulieferindustrie Europas, die unter den Produktionsstopps in Deutschland und Frankreich leidet. Am härtesten aber trifft es den Fremdenverkehr; im April und Mai kamen keine Gäste nach Spanien. Von 1. Juli an sollen sie wieder einreisen dürfen, doch hat die Regierung noch nicht genau mitgeteilt, mit welchen Abstandsregeln sie dann rechnen müssen. Sozusagen zum Üben hat sie erlaubt, dass 6000 deutsche Touristen schon am 15. Juni nach Mallorca reisen dürfen. Die Tagesschau berichtet sogar von bis zu 10 900 erlaubten deutschen Urlaubern. Mallorca ist relativ wenig von der Pandemie betroffen. Man wolle prüfen, ob die Sicherheitsprotokolle unter anderem an den Flughäfen und in den Hotels funktionieren, hieß es.

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SZ vom 12.06.2020
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