Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:"Impfung oder Infektion - das ist die Wahl für jeden Einzelnen"

Weil der Anteil der Delta-Variante innerhalb weniger Tage von sechs auf 15 Prozent ansteigt, appelliert Gesundheitsminister Spahn, Impfangebote weiter wahrzunehmen. Doch es gibt noch mehr Herausforderungen.

Von Julia Bergmann

Am 26.12.2020 schrieb Edith Kwoizalla Geschichte. Kwoizalla, damals 101 Jahre alt, war die erste Frau in Deutschland, die gegen das Coronavirus geimpft wurde. Medien berichteten und mit jedem Beitrag zum Beginn der deutschen Impfkampagne stieg die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie, auf die Rückkehr zur Normalität, auf Freiheit. Sechs Monate später sind 44 Millionen Menschen in Deutschland erstgeimpft, 28,3 Millionen haben einen vollständigen Impfschutz, die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sinkt auf 6,2. Die Erfüllung des Traums von Freiheit scheint so nah zu sein wie lange nicht mehr.

Aber Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), RKI-Präsident Lothar Wieler und der Charité-Immunologe Leif Erik Sander haben in der Bundespressekonferenz auch schlechte Nachrichten.

Spahn rückt sein Sakko zurecht, legt die Maske ab und setzt zu seinem wöchentlichen Vortrag zur Infektionslage an: Der Anteil der besonders ansteckenden Delta-Variante des Virus liegt auch in Deutschland schon bei 15 Prozent. Sie sorgt im impfquotenstarken Israel und in England gerade dafür, dass Lockerungen zurückgenommen werden und Infektionszahlen wieder steigen.

Einen Freitag zuvor, gleicher Ort, gleiche Zeit, hatte Spahn noch von sechs Prozent berichtet. Aber auch die 15 Prozent, von denen Spahn und Wieler jetzt sprechen, geben lediglich den Stand von vor zwei Wochen wieder. Die Sequenzierung, die es brauche, um die Quote der Infektionen mit der Delta-Variante nachzuweisen, führe zu Zeitverzögerungen, erklärt Wieler. "Wir gehen davon aus, dass sie heute schon höher sein wird."

Spahn: Delta wird die Oberhand gewinnen

Die Zahlen steigen also, sie steigen schnell, und Spahn tut, was er am Freitagvormittag in den vergangenen Monaten so oft getan hat: Er mahnt. "Aus einem zuversichtlichen Sommer darf kein sorgenvoller Herbst werden." Jetzt gelte es Maske zu tragen, Hygieneregeln einzuhalten, die Impfquote weiter zu steigern und Testangebote wahrzunehmen; besonders für Rückkehrer aus dem Urlaub.

Fest stehe, auch das sagt Spahn, Delta werde die Oberhand gewinnen. Das sei keine Frage von Monaten, sondern von Wochen. Entscheidend sei dabei aber, unter welchen Bedingungen die Variante die dominierende sein werde. "15 oder 25 Prozent von 500 Infektionen am Tag ist halt etwas anderes, als 15 oder 25 Prozent von 5000 oder mehr Infektionen am Tag."

Spahns Rechnung ist einfach, aber richtig. Weil das so ist, überbieten sich Spahn, Wieler und Sander in ihrem Bemühen, zu verdeutlichen, dass das Steigern der Impfquote essenziell im Kampf gegen die Pandemie sei. Gerade mit Blick auf die Delta-Variante sei es besonders wichtig, betont Spahn, auch die zweite Impfung wahrzunehmen, um geschützt zu sein.

Alle Impfstoffe, die bisher in Deutschland eingesetzt werden, seien auch gegen sämtliche derzeit bekannten Virusvarianten wirksam. "Wer nicht geimpft ist, wird sich früher oder später infizieren", sagt Spahn und schiebt, wie er es in letzter Zeit ebenfalls so oft an Freitagvormittagen tut, noch ein griffiges Zitat hinterher: "Impfung oder Infektion - das ist die Wahl für jeden Einzelnen."

Wieler: "Basismaßnahmen weiter aufrechterhalten"

Die Impfung biete zwar keinen hundertprozentigen Schutz vor einer Infektion, so RKI-Chef Wieler. "Aber wir wissen, dass Menschen die vollständig geimpft sind, vor schwerwiegender Erkrankung geschützt sind." Dennoch bleibe es wichtig, alle Hygienemaßnahmen sowie die Maskenpflicht in Innenräumen zum Schutz vor dem Virus beizubehalten. "Nur die Impfungen alleine werden uns nicht vor einem Anstieg der Infektionszahlen im Herbst schützen", erklärt Wieler.

In vielen Ländern, in denen sich die Delta-Variante rasch ausbreite, habe man zuvor Basismaßnahmen zurückgenommen. Die Lehre daraus: "Man sollte nicht zu früh lockern. Wir müssen die Basismaßnahmen weiter aufrechterhalten." Schwierig sei das, sagt Wieler, er könne das schon verstehen. Nur wenn das nicht gelinge, seien bevölkerungsbezogene Maßnahmen wieder nötig. Im Klartext: Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Schließungen.

Ein bisschen wirkt Wieler dabei, als müsste er einem besonders renitenten Haufen Kleinkinder Vernunft einbläuen. "Es hilft eben nur, wenn alle Mund-Nasen-Schutz tragen", sagt er. Man möchte gar nicht wissen, wie Wieler sich beim wöchentlichen Wiederholen seiner Apelle fühlt. "Das Beispiel Israel zeigt, dass man es weiter machen muss", sagt Wieler. Dort wurde gerade erst die Maskenpflicht in Innenräumen wieder eingeführt.

Schon bald könnte für einige Menschen die dritte Impfung nötig sein

Leif Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung der Berliner Charité, warnt vor neuen Herausforderungen für die Impfkampagne. Seit Beginn der Pandemie sei klar, dass die Rückkehr zur Normalität nur über wirksame Impfungen funktioniere, sagt er. Es gelte jetzt, auch jene für eine Impfung zu gewinnen, die bisher noch zurückhaltend oder skeptisch waren. Denn so viel stehe fest: "Sars-CoV-2 wird nicht verschwinden, es wird weiterhin in der Bevölkerung zirkulieren." Und noch eine Herausforderung: Es sei gut möglich, dass Menschen über 80 und Immungeschwächte bereits im Herbst eine dritte Impfung erhalten müssen.

"Personen, die ohnehin eine abgeschwächte Immunantwort haben, könnten möglicherweise durch die Delta-Variante wieder etwas stärker gefährdet werden", sagt Sander. Dazu gehörten etwa organtransplantierte Menschen oder andere, die eine immunsupprimierende Therapie erhalten, aber auch über 80-Jährige. Diese wurden Anfang des Jahres als besonders vulnerable Gruppe zuerst geimpft, was Sander zufolge zu einem bald nachlassenden Impfschutz führen könnte.

Noch ist unklar, wie lange die Immunisierung durch die Impfung vorhält. Die Studienlage ist bisher dünn. Erste Daten aus kleineren Untersuchungen liegen jedoch bereits vor. "Die Daten sollten wir ernst nehmen", sagt Sander. "Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass für bestimmte Personengruppen im Herbst Auffrischungsimpfungen notwendig sein könnten."

Wie die möglicherweise notwendigen dritten Impfungen koordiniert werden? Wie die Bundesregierung sich darauf vorbereite? Noch gebe es zu einer dritten Impfung noch keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko), erklärt Wieler. Noch stehe nicht fest, ob oder zu welchem Zeitpunkt sie welchen Personengruppen angeboten werden muss.

Dennoch: "Wir werden uns weiter auf die Stiko verlassen können", sagt Wieler. Vorsichtig, bedacht, weil zur Sachlage noch zu wenig bekannt ist. Spahn betont, man wolle, sobald man allen Erwachsenen ein Impfangebot gemacht habe, was spätestens bis Juli der Fall sein soll, zwar Impfstoffdosen an andere Länder spenden, aber auch genug Dosen für mögliche Drittimpfungen bereithalten. Ein großes Versprechen.

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