Süddeutsche Zeitung

Soziologie des Krieges:"Ein weites Dach für viele Tote"

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Die Historikerin Svenja Goltermann hat ein bemerkenswertes Buch darüber geschrieben, wie die Figur des Opfers in der Moderne entstand und sich durchsetzte. Und darüber, wie sich der Umgang mit Kriegsfolgen verändert hat.

Von Isabell Trommer

Das religiöse Opfer ist ein alter Hut. In der Thora oder im Alten Testament etwa ist es eine häufig beschriebene Praxis: die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern soll, Speiseopfer, Schuldopfer, Gaben, um den Zorn Gottes zu mildern. Das Konzept des Kriegs- oder Gewaltopfers hingegen entstand erst viel später. Obwohl der Begriff heute so eine breite Bedeutung hat, war es in Europa bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus nicht üblich, Menschen, die Gewalt ausgesetzt waren oder Schaden erlitten, als Opfer zu bezeichnen. Die in Zürich lehrende Historikerin Svenja Goltermann hat nun eine Abhandlung über die Figur des Opfers vorgelegt, über einen Begriff, "der mittlerweile", wie sie schreibt, "ein weites Dach für viele Tote abgibt".

Das Buch diskutiert nicht - oder nur am Rande - den flexiblen Umfang mit dem Begriff Opfer in der Gegenwart, kritisiert oder bejubelt nicht die sogenannte Opferkonjunktur oder das in Mode gekommene Schimpfwort ("Du Opfer"). Es handelt sich in erster Linie um eine historische Studie, in der die Autorin zeigt, wie die Figur des Opfers in der Moderne entstand und sich durchsetzte.

Erst im Ersten Weltkrieg nahm man Frauen und Kinder als Opfer wahr

Von 1818 bis 1822 forschte der einstige Leutnant Heinrich Meyer im Auftrag der preußischen Regierung in Russland nach den 16 000 vermissten Soldaten, die vom Russlandfeldzug 1812 nicht zurückgekehrt waren. Ein preußisches Hilfskorps hatte damals zunächst an der Seite von Napoleons Grande Armée gekämpft, bevor Preußen eine Allianz mit Russland einging. Die nach dem Krieg erstellten "Meyer'schen Listen" konnten in zahlreichen Fällen darüber aufklären, wer verstorben und wer noch am Leben war.

Das ist eine erstaunliche Begebenheit, weil sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts Praktiken zu etablieren begannen, mit denen sich Wissen über den Tod von Soldaten gewinnen ließ. Solche Praktiken, so Goltermann, seien Teil einer Wahrnehmungsverschiebung gewesen. 1870 etwa führte Preußen Identifikationsmarken für Soldaten ein. Sie waren, wenn sie ums Leben kamen, nicht mehr bloß Tote, sondern tote Individuen. Oder ein anders gelagertes Beispiel: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erprobten Ärzte die Wirkung von Schusswaffen, so wurden bald sogenannte Dumdumgeschosse verboten. Dabei ging es letztlich um Regeln, nicht darum, den Krieg an sich infrage zu stellen. Goltermann spricht von "Bemühungen um eine 'Zivilisierung' des Krieges"; die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt entstand. Das geschah im Zuge völkerrechtlicher Entwicklungen wie jenen, die zur Genfer Konvention von 1864 und den Haager Konventionen von 1899 und 1907 führten. Von "Kriegsverbrechen" sei dann explizit erst nach dem Ersten Weltkrieg die Rede gewesen, als sich belgische, französische, britische und amerikanische Juristen auf die Ahndung der "deutschen Gräuel" verständigten. Mit dem Ersten Weltkrieg habe man begonnen, Fürsorge für Kriegsgeschädigte zu organisieren. Ansprüche und Forderungen gegen den Staat wurden artikuliert, Kriegsgeschädigte verwiesen auf die Opfer, die sie gebracht hatten. Wenn man heute in der Frankfurter Taunusanlage an einem 1920 eingeweihten Mahnmal vorbeikommt, das eine trauernde Frau zeigt, wundert man sich wenig über den Schriftzug "Den Opfern". Damals jedoch war die Bezeichnung vergleichsweise neu.

Nach dem Krieg ging es jedoch nicht länger allein um die Opfer der Soldaten, also um die Opfer, die sie für etwas erbracht hatten. Frauen und Kinder als Leidtragende gerieten ebenfalls in den Blick, Menschen, die Opfer von etwas geworden waren. (Die deutsche Sprache hat im Gegensatz zum Englischen keine begriffliche Unterscheidung zu bieten wie die zwischen "sacrifice" und "victim".) Ein Artikel in der Zeitung Daily News and Leader über deutsche Luftangriffe auf englische Städte war 1915 mit "The Baby Victim" überschrieben. Die "unschuldigen zivilen Opfer" wurden nun also zu einer eigenständigen Kategorie, die sich bald auch beim Roten Kreuz etabliert habe. Das alles sei natürlich keine ungebrochene Fortschrittsgeschichte, darauf weist die Autorin nachdrücklich hin, wurden die Regelungen doch stetig unterlaufen und gebrochen.

Psychische Leiden wurden erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts anerkannt

Der Begriff Kriegsopfer sei von den Nationalsozialisten in Deutschland institutionell durchgesetzt worden, unter anderem, indem sie die Kriegsbeschädigtenverbände in der Wohlfahrtseinrichtung Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) gleichschalteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zwar in Deutschland weniger von soldatischen Kriegsopfern die Rede, doch den Opfern des Nationalsozialismus schenkte man erst seit den Sechzigerjahren und dann nur zögerlich Gehör. In den Achtzigerjahren sei es schließlich zu einem kulturgeschichtlichen Wandel gekommen, im Zuge dessen auch die Zeugenschaft und die Erinnerung von Opfern aufgewertet wurden. Aber auch soziale Bewegungen wie die Arbeiter- und die Frauenbewegung oder die wissenschaftliche Disziplin Viktimologie haben zur Etablierung und Ausweitung des Opferbegriffs beigetragen.

Letztlich nennt Svenja Goltermann zwei zentrale Punkte, mit denen sie "den Aufstieg der Figur des Opfers" erklärt: Zum einen habe die Etablierung der Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rechtsvorstellungen verändert, eine Entwicklung, aus der unter anderem die völkerrechtlich anerkannte Figur des Zivilisten hervorging. Zweitens nennt die Autorin die Entstehung eines neuen Traumakonzepts. Psychische Leiden wurden von nun an mit Bezug auf äußere Ereignisse oder Erlebnisse erklärt. Ein Beispiel dafür sei die posttraumatische Belastungsstörung, die im Zuge des Vietnamkrieges identifiziert und 1980 offiziell als Diagnose anerkannt wurde.

Svenja Goltermann hat ein bemerkenswert interessantes, erhellendes und gut zu lesendes Buch geschrieben, das erstaunliche Befunde zutage fördert. Man liest es mit Gewinn, weil es gerade nicht den Erwartungen folgt, die sich einstellen mögen, wenn man den Haupttitel "Opfer" sieht. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Historikerin zunächst den Vorbedingungen widmet. Es ist keine Begriffsgeschichte, sondern ein thematisch weit gespanntes Buch, das Versuche, den Krieg zu "zivilisieren", darstellt und zeigt, wie sich der Umgang mit Kriegsfolgen verändert hat, welche Rolle Individualisierung, medizinische und psychologische Forschung und juristische Entwicklungen gespielt haben. Die Stärke der Studie liegt in den ausgewählten historischen Momenten und in dem Ansatz, den Goltermann verfolgt. Sie beschreibt die Verbreitung und Durchsetzung von Wissen und verliert sich nicht in einer kleinteiligen Darstellung. So bringt es der Zugriff der Autorin freilich mit sich, dass manche Teile des Buches eher lose miteinander verdrahtet sind.

Die Historikerin sieht den Begriff des Opfers letztlich ambivalent, legt er die von Gewalt betroffenen Menschen doch oft auf eine Position der Schwäche fest. Er kann eben auch schlichtweg ein Stigma sein. Sie erinnert aber zugleich daran, dass es der Begriff des Opfers ermöglicht, Kritik an Unrecht und Gewalt zu üben. So ist es am Ende eben nicht nur ein historisches Buch, da es die politische Dimension des Begriffs fest im Blick hat: Nach wie vor hänge es von Machtkonstellationen ab, wer als Opfer anerkannt werde. Machtkonstellationen wiederum können durch die Zeugnisse von Geschädigten ins Wanken geraten - wenn man ihnen denn Gehör schenkt.

Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin. Zuletzt erschien von ihr: "Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik".

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SZ vom 18.12.2017
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