Süddeutsche Zeitung

Sozialwohnungen:Wenn Obdachlose und Flüchtlinge um Wohnraum konkurrieren

Flüchtlinge sind nicht schuld am Wohnungsmangel. Aber sie verschärfen ihn. Beobachtungen in Augsburg

Von Bernd Kastner

Hans Fischer und Mohamad Salem sind sich noch nie begegnet, dabei haben sie dasselbe Ziel am selben Ort. Fischer, 58 Jahre alt, ist gebürtiger Augsburger, der 18-jährige Salem kommt aus Damaskus. Beide leben in Zimmern, aus denen sie möglichst schnell rausmüssen und raus- wollen. Beide suchen eine preisgünstige Wohnung, beide gehören einer stark wachsenden Bevölkerungsgruppe an, während das, was sie suchen, immer schwerer zu finden ist.

Die Zahl der Wohnungslosen dürfte bis 2018 um 60 Prozent zunehmen, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW): Waren 2014 noch 335 000 Menschen wohnungslos, dürften es 2018 bereits 536 000 sein. Die vielen Flüchtlinge sind nicht der Grund für die Misere, sagen die Experten, sie verschärfen die Lage aber. Nach Abschluss ihres Asylverfahrens stehen viele Flüchtlinge mit Bleiberecht ohne Bleibe da.

Hans Fischer (Name geändert) lebt seit Oktober vergangenen Jahres in der Nähe des Augsburger Hauptbahnhofes. "Übergangswohnheim" steht am Hauseingang, das klingt etwas weniger traurig als Obdachlosenheim. Fischer erzählt, dass sein Vermieter Eigenbedarf angemeldet habe, im Oktober musste er raus. Hinter ihm liegen Jahre, wie sie typisch sind für Menschen ganz unten. In den 90er-Jahren hatten er und seine Frau genügend Geld. Der gelernte Feinblechner hatte bei der Bundeswehr gearbeitet, ehe er nach einem Verkehrsunfall umsatteln musste. Fortan fuhr er 24 Jahre lang Lastwagen, kreuz und quer durch Europa, daran sei seine Ehe zerbrochen.

Er zog bei seiner Mutter ein, und als die starb, war er allein. Es folgten ein paar Umzüge, es kam die Krankheit, ein Tremor, vererbt, nicht heilbar, sagt er. An manchen Tagen zittere er so sehr, dass er seinen letzten Job als Hausmeister habe aufgeben müssen. Also Obdachlosenasyl.

Grauer Linoleumboden, graue Türen, Zweibettzimmer, zwei Klos für 20 Männer auf dem Stockwerk, so sieht es hier aus. Nicht schmuddelig, aber trist. Niemand soll sich hier so wohlfühlen, dass er sich dauerhaft einrichtet. Fischers Zimmergenosse ist ein Sammler. Er klaubt Herumliegendes auf der Straße auf, verstaut es vor und auf seinem Bett. Fischer sagt, der Nachbar sei ja ein netter Kerl, aber er wünsche sich, der Mann würde hin und wieder unter die Dusche gehen.

Für Flüchtlinge gibt es mittlerweile Mietbefähigungskurse

Schicksale wie die von Hans Fischer sind in einer Art Fieberkurve versteckt, die Stefan Kiefer über den Tisch schiebt. Kiefers Büro liegt vis-à-vis von Augsburgs prächtigem Renaissance-Rathaus. Als Dritter Bürgermeister ist er in dieser ziemlich durchschnittlichen deutschen Großstadt fürs Soziale verantwortlich, und seine Kurve bereitet ihm zunehmend Sorgen: Vor etwa fünf Jahren begann die Zahl der Obdachlosen in Augsburg zu steigen, von etwa 100 auf jetzt 200 Menschen, die in städtischen Obdachlosenhäusern leben, darunter viele Familien. Der SPD-Politiker Kiefer sagt, mit der prognostizierten Steigerung von 60 Prozent bis 2018 wäre er noch ganz zufrieden. Er rechnet mit mehr.

Augsburg steht im Schatten des 60 Kilometer entfernten München. Im Vergleich zum dortigen Immobilienmarkt wirkt der Augsburger moderat. Das aber täuscht. Denn entscheidend ist die Entwicklung, wie sie Kiefer skizziert: Seit 2010 stieg Augsburgs Einwohnerzahl um 20 000 Menschen auf jetzt knapp 290 000. Augsburg ist anziehend. Die Wirtschaft läuft, und wer sich München nicht leisten kann oder will, weicht an den Lech aus. Es ziehen viele Migranten aus den östlichen EU-Ländern Bulgarien und Rumänien zu, und bald werden auch die Flüchtlinge in die Statistik einfließen.

Während die Bevölkerung wächst, schrumpfte die Zahl der Sozialwohnungen von etwa 20 000 in den 80er-Jahren auf heute rund 5000, sagt Kiefer. Neu gebaut wurden in Augsburg seit Langem keine geförderten Wohnungen mehr, abgesehen vom Ersatz für Abrisshäuser. Jetzt merkt die Stadt, dass günstige Wohnungen fehlen, 100 sollen nun pro Jahr neu entstehen - bei 5000 Menschen, die auf der Warteliste für eine Sozialwohnung stehen. Kiefer weiß, dass seine Stadt auf eine Misere zusteuert, wie viele andere Kommunen auch.

Augsburg ist stolz auf seine Fuggerei, die älteste Sozialsiedlung der Welt, gegründet vor knapp 500 Jahren von Jakob Fugger dem Reichen. Einen Rheinischen Gulden zahlen die etwa 150 Bewohner bis heute im Monat, 88 Cent. Mohamad Salem, der syrische Flüchtling, wird nie in die Fuggerei ziehen, sie nimmt nur gebürtige Augsburger auf, katholisch müssen sie obendrein sein. Noch lebt der junge Mann im schwäbischen Marktoberdorf, aus dem Asylheim dort muss er raus, und will auch raus, um in Augsburg sein Informatikstudium fortzusetzen. Auf dem Display seines Smartphones leuchten diverse App-Symbole: WG-Gesucht, Immoscout, und so weiter. Um etwas Bezahlbares zu finden, braucht Salem Geduld und Glück.

Auf dem Gelände eines alten Straßenbahndepots sitzt der Student im Café des Vereins "Tür an Tür", der sich um das Miteinander von Einheimischen und Migranten kümmert. Nebenan hat das Projekt "Mov'in" sein Büro, dessen Geschichte man schon in der Vergangenheitsform erzählen muss. Das Projekt läuft just in diesen Tagen aus, dabei wäre es nötiger denn je. Zwei Jahre lang war Christine von Gropper Flüchtlingen Lotsin und Coach. Sie hat sie mit Vermietern zusammengebracht und "Mietbefähigungskurse" angeboten. Eine Art Nachhilfe in deutscher Mietkultur.

Gropper hat ihnen erklärt, wie sie sich einem Vermieter vorstellen sollen, am Telefon und an der Haustür, wann man die Hand gibt und Einheimische direkten Blickkontakt erwarten. Die Sozialpädagogin hat Flüchtlinge bei Besichtigungen begleitet und sich, nach dem Einzug, darum gekümmert, dass die Migranten das System der Mülltrennung beherzigen und aufs regelmäßige Lüften achten, um Schimmel zu verhindern. Vor allem war sie weiterhin die Ansprechpartnerin für die Vermieter. Denen, erzählt Christine von Gropper, sei wichtig, eine einheimische Kontaktperson zu haben, wenn es mal Probleme gibt. Und sei es nur, dass ein Kind mit seinem Fahrrad an einem Auto entlang-geschrammt ist. Gelungene Integration beginnt manchmal mit einer Haftpflichtversicherung. Jetzt läuft die Finanzierung von "Mov'in" aus, aber Gropper weiß, dass man sie noch oft um Rat fragen wird.

Thomas Specht, der Geschäftsführer der BAGW in Berlin, erwartet, dass bundesweit mehrere 100 000 Flüchtlinge ins System der Obdachlosenhilfe rutschen, und damit in die Zuständigkeit von Städten und Gemeinden. "Das wird manche Kommunen plattmachen", sagt er, "wie so oft wird der Kopf in den Sand gesteckt." Specht prophezeit enorme gesellschaftliche Spannungen als Quittung für jahrzehntelanges Laisser-faire in der Wohnungspolitik. Seit 2002 sei die Zahl der Sozialwohnungen um eine Million gesunken. Selbst wenn eine Kommune jetzt gegenzusteuern beginnt, wird es Jahre dauern, bis eine nennenswerte Zahl günstiger Wohnungen bezugsfertig ist. Statt schneller Linderung erwartet Specht Futter für Agitatoren: "Die Flüchtlinge sind die geborenen Sündenböcke für die Rechtspopulisten."

In Augsburg haben sie zwar kaum neue, günstige Wohnungen in Aussicht, aber immerhin so etwas wie einen Plan. Die Stadt will ein Wohnbüro eröffnen. Dorthin soll sich wenden, wer um seine Bleibe bangt oder sie schon verloren hat. Einheimische und Flüchtlinge will man gleichrangig beraten und betreuen, betont Sozialbürgermeister Kiefer und spielt auf befürchtete Verteilungskämpfe an. Der gesellschaftliche Sprengstoff ist groß: "Wir finden wegen denen keine Wohnung." Sätze wie diesen hört Claudia Hollstein in ihrem Obdachlosenasyl immer wieder. "Ich müsste halt ein Flüchtling sein." Auch so ein Spruch. Dabei genießen Flüchtlinge keine Vorzugsbehandlung. Von einer "gefühlten Benachteiligung" spricht Kiefer.

Gemeinsam mit Wohlfahrtsverbänden will sich Augsburg um Bürger kümmern, die es besonders schwer haben auf dem Mietmarkt. Starten wird das Wohnbüro frühestens 2017, solange wird es an Stefan Kiefers Bürotür immer wieder klopfen. "Jeden Tag kommt jemand", erzählt er. In ihrer Not gehen die Leute gleich zu einem der Obersten in der Fuggerstadt, um ihn zu fragen, ob er eine bezahlbare Wohnung für sie habe. Allein, Kiefer ist Bürgermeister, kein Fugger.

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Quelle:
SZ vom 01.04.2016/bepe
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