Süddeutsche Zeitung

Sozialwissenschaft:Kaleidoskop voller Narrative

Lesezeit: 3 min

Ein Sammelband über politisch brisante Themen wie Populismus und Neue Rechte scheitert an mangelnder Stringenz und bietet stattdessen akademisches Wortgeklingel. Hier galt offenbar das Motto: Viele Köche verderben den Brei.

Von Wolfgang Freund

Das vorliegende Opus magnum könnte, so wie es dem Leser in die Hände fällt, nahezu als Karikatur seiner selbst gelten, als Überzeichnung dessen, was man in Fachkreisen einen Sammelband zu nennen pflegt. Gerade mal 210 Seiten verteilen sich auf vier Mitherausgeber und 14 Textautoren, unter denen die vorgenannten Mitherausgeber ebenfalls als Ko-Autoren erscheinen. Die Wissenschaftler verbänden - Zitat aus einem neunzeiligen Verlagseditorial - "sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form". Zu beiden Behauptungen wird einiges zu sagen sein. Das Konvolut nennt sich "Großerzählungen", ein urdeutsches Unwort, das man im Duden, Grundgesetz deutscher Ausdrucksformen und Rechtschreibung, vergeblich suchen würde. Neuwortschöpfungen wie "intrinsisch" (wohl dem englischen intrinsic - innewohnend - bzw. französischen intrinsèque entnommen) oder "Ideologem" (vielleicht als Spurenelement einer Ideologie zu verstehen, der Duden spricht von Gedankengebilde), treten gehäuft auf und tragen zur Einnebelung der "sensiblen Beobachtungen mit scharfer Analyse" nicht unwesentlich bei. Andere Schreckwörter (unter vielen): "affin", Adjektiv entnommen dem durchaus gängigen Fremdwort "Affinität" (Ähnlichkeit), bezieht sich aber eigentlich ausschließlich auf "geometrische Abbildungen", die sich ähneln, schreibt der Duden. Und dann das neue Modewort "Narrativ". Basic English unserer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftsfakultäten steht Pate.

Was nun die "angenehm lesbare Form" angeht, so lässt sich auch darüber streiten, ganz abgesehen von einem Satzspiegel, der, offenbar um Seiten zu sparen, einen Vergleich mit Augenpulver für Halbblinde durchaus gestattet. Schließlich hämmert eine im unklaren Tiefsinn raschelnde Wortführung, wo Fremdwörter und noch fremdere Ausdrücke - zumeist Anlehnungen, wie schon weiter oben angedeutet, an einen fragwürdigen, außerhalb solcher Fachbereiche kaum verstehbaren akademischen Slang - sich die Show abjagen, gezielt auf den Leser ein. Der Versuch, einer kaum informierten Außenwelt vorzugaukeln, Sozialwissenschaften seien nicht weniger hart und präzise als Mathematik oder Kernphysik? Er schösse ins Leere.

Durch die inhaltliche Abfolge "Neue Rechte" (drei Beiträge), "Populismus" (vier Beiträge), "Islamismus" (vier Beiträge) und "War on Terror" (drei Beiträge) wird die Stringenz eines roten Fadens suggeriert, die letztlich keine ist. Denn alles überlappt sich darin viel zu intensiv, und zahlreiche Dubletten, die sich quer durch mehrere Beiträge quälen, machen die Lektüre auch nicht einfacher, ganz abgesehen von Wortungetümen wie "Rechtfertigungsnarrative" oder ähnlich gearteten vokabularen Krümelmonstern. Empfehlung: Am besten liest man die jeweiligen Beiträge für sich selbst, ohne groß zu hinterfragen, wie systematisch die jeweilige "Großerzählung" aus der vorangestellten hervorgeht beziehungsweise zur nachfolgenden weiterführt.

Und voilà, eine weitere akademische "Untugend", welche in diesem Buch gehäuft zu beobachten wäre: Mehrere Ko-Autoren zitieren sich häufig selbst, nach der Vorgehensweise, um es ein wenig karikierend zu sagen, von Prof. Dr. Dr. h.c. Otto Neunmalklug (Name fiktiv, um keine Feindschaften auf Lebenszeit aufkommen zu lassen): Vgl. auch O. Neunmalklug 2013, wie O. Neunmalklug 1998 bei O. Neunmalklug 2005 schon überzeugend nachgewiesen hat ... Doch die Nachweise hinken, zumindest wenn sie so zahlreich und egozentrisch auftreten.

Dabei hätte das Buch und streckenweise die in ihm vorgestellten "Großerzählungen" durchaus die Aufmerksamkeit an den angesprochenen Kernfragen interessierter Leserkreise wecken können; denn die angesprochenen Themen Neue Rechte, Populismus, Islamismus und War on Terror sind gegenwartsnah und tragen Zündstoff in sich. Autoren wie Claus Leggewie ("Entkräftung und Widerstand") im Themenbereich Populismus oder Paula Diehl ("Rechtspopulismus und Massenmedien") ebenda analysieren wichtige und ständig wiederkehrende Streitpunkte (Fachwort: Dollpunkte) unserer soziopolitischen Gegenwart und schreiben sogar einigermaßen lesbar. Aber wie schon gesagt, das Ganze findet aus den Zufälligkeiten, die das Zusammennageln unterschiedlicher Beiträge zu "Großerzählungen" hervorbringt, nicht hinaus. Ein einziger Herausgeber hätte das Unternehmen wohl zielgerechter steuern können, doch in der vorliegenden Art, wo vier Herausgeber mitmischen und parallel dazu sich auch noch als Ko-Autoren in Stellung bringen, konnte alles nur in einer Art "narrativen Kaleidoskops" enden.

Das volkstümliche Bild von den zahlreichen Köchen und deren "verdorbenem Brei" stellt sich nahezu selbsterklärend ein. Also "Großmärchen" an Stelle von "Großerzählungen"? Schade, dass ein solcher Vergleich sich kaum verdrängen lässt.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.

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Quelle:
SZ vom 09.07.2018
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