Sozialverbände:"Die AfD wertet das Leben von Behinderten als nicht lebenswert ab"

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Sozialverbände in Deutschland warnen vor der Haltung der AfD zu Menschen mit Behinderungen. (Archivbild) (Foto: dpa)

Mit einem Aufruf warnen 18 Sozialverbände vor der AfD, die Migration, Behinderung und Inzucht miteinander verknüpfe. Fragen an Ilja Seifert vom Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

18 Sozialverbände haben in einer großformatigen Zeitungsanzeige die Bevölkerung zur Wachsamkeit aufgerufen. Anlass ist eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag: Sie wollte von der Bundesregierung wissen, wie viele Behinderte es in Deutschland gibt und welche Rolle Eheschließungen unter Migranten dabei spielen. Die Verknüpfung von Behinderung mit Inzest und Zuwanderung hat breite Empörung ausgelöst. Fragen an Ilja Seifert, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland (ABiD).

SZ: Die AfD hat mit einer Anfrage zu Behinderten in Deutschland für viel Unmut gesorgt. Ihr Verband gehört zu den Organisationen, die nun vor der Partei warnen. Worüber sind Sie so entsetzt?

Ilja Seifert: Die AfD-Fraktion erweckt mit ihrer Anfrage den Eindruck, die meisten Behinderungen würden durch Inzucht entstehen - also weil Verwandte miteinander Kinder haben. Das ist sachlich falsch. Und die AfD wertet das Leben von Behinderten als nicht lebenswert ab. Das steht nicht wörtlich in der Kleinen Anfrage, schwingt aber mit. Und das ist unmenschlich.

Wenn im Bundestag darüber gesprochen wird, wie viele behinderte Menschen es in Deutschland gibt, könnte das doch auch hilfreich für Ihre Arbeit sein.

Es geht bei dieser Sache aber nicht um die Zahlen. Die Überlegung der AfD ist zudem unlogisch: Wenn Inzucht vermieden werden sollte, dann wäre es ja eher wünschenswert, dass Menschen von Außen dazu kommen. Und warum fragen die nicht nach der Familienpolitik unter Adligen? Nein, es geht der AfD darum, behindertes Leben als etwas Vermeidbares darzustellen. Als etwas, das Schaden anrichtet. Früher wurde von "unnützen Essern" gesprochen, von "ewig Leidenden", die man von ihrem Leid befreien müsste. Das ist ja nicht neu.

Sie spielen auf das Dritte Reich an.

Schauen Sie mal in das Wahlprogramm der AfD. Die fordern für alle Behinderten nur noch Sonderschulen, Sondereinrichtungen. Natürlich immer mit dem Hinweis, dort wären die Bedingungen für sie besser.

Besondere Einrichtungen für Behinderte gibt es doch schon. Sind die alle schlimm?

Wer - wie der ABiD und ich persönlich - volle und gleichberechtigte Teilhabe will, kann Einrichtungen, in denen Menschen ausgesondert werden, nicht wollen. So engagiert dort gegebenenfalls auch gearbeitet wird: Es bleibt Aussonderung.

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Die AfD-Politikerin entschuldigt sich für ihre Äußerungen unmittelbar nach der Amokfahrt in Münster. Sie hatte die Tat unbegründet mit der Flüchtlingskrise in einen Zusammenhang gebracht.

Und bei der AfD geht es sowieso nicht um Förderung, sondern nur um Aussonderung. So sind die Nationalsozialisten auch vorgegangen, bevor sie 300 000 behinderte Menschen im Rahmen des sogenannten Euthanasiegesetzes umgebracht haben. Alles übrigens mit der Begründung, man täte ihnen etwas Gutes, weil man sie von ihrem Leiden befreit. Dabei ist es falsch zu sagen, Behinderte würden unter ihrer Behinderung leiden. Sie leben damit.

Könnte es sein, dass die AfD nur wieder provozieren will?

Natürlich ist es die übliche Provokation, um bei den Stammtischen im Gespräch zu bleiben. Das fällt bei einigen Menschen auf fruchtbaren Boden, dass man nicht die Schwächeren, die "Ballastexistenzen" durchfüttern solle, sondern lieber die Leistungsstarken fördern. Man darf nicht unterschätzen, dass sich manche wirklich vorstellen, dass irgendwann Taten folgen. Das ist richtig gefährlich.

Wieso mischt die AfD hier in die Thematik noch die Migranten, denen sie unterstellt, durch Inzucht behinderte Kinder zu bekommen?

Der AfD geht es immer um das "Wir und Ihr". Die Deutschen, die Gesunden, die Arier auf der einen Seite. Die Fremden, die Migranten und die Behinderten auf der anderen. Das ist meiner Meinung nach kein Zufall, kein Versehen irgendeines Mitarbeiters. Da steckt ein Konzept dahinter.

Was halten Sie von der Antwort der Bundesregierung, die nur trocken geantwortet hat, ohne Hinweise darauf, dass der Hintergrund der Anfrage etwas fragwürdig sein könnte?

Ich finde das zwiespältig. Rechtlich darf die AfD-Fraktion solche Fragen stellen, die Regierung hat das nicht zu kritisieren. Ihre Antwort ist ziemlich clever: Sie geht ganz sachlich vor. Zu Fällen, in denen nach Heirat in der Familie gefragt wird, gibt es der Regierung zufolge gar keine Zahlen. Und mit der Häufigkeit von Behinderten überhaupt kann weder die AfD noch sonst jemand etwas anfangen.

Was nutzt es denn, wenn wir wissen, ob es eine Million Behinderte in Deutschland gibt, oder zehn? Unter Menschrechtsaspekten betrachtet ist auch die Diskriminierung von zehn Menschen indiskutabel.

Die Zahl der Betroffenen kann doch auf die Größenordnung des Problems hinweisen.

Wir müssen endlich begreifen, dass Behindertenpolitik nicht Sozialpolitik ist. Es geht nicht um Armenrecht, sondern um Menschenrechtspolitik. Die UN-Konvention sagt ausdrücklich, dass behinderte Menschen zu einer Gesellschaft dazu gehören. Behindert zu sein ist keine Prüfung, keine Strafe Gottes, es kommt einfach vor. Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens, durch Krankheit, Unfälle, das ist Teil des Menschseins. Schon die Diskriminierung eines einzigen Behinderten ist eine zu viel.

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