Er hat es eilig - obwohl er gerade in den Ruhestand gegangen ist. Der Jurist Jürgen Borchert, 65, hat im Dezember sein Amt als Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht abgegeben. Ein Mann, der mit dem großen Etikett "Soziales Gewissen Deutschlands" versehen wurde, den viele als "Robin Hood der Familien" vergöttern und der maßgebliche Verfassungsbeschwerden geprägt hat, die unser Land ein klein wenig gerechter machen, hört nicht so einfach auf. Jürgen Borchert ist mit dem Zug aus Heidelberg angereist, gottseidank pünktlich - denn er hat viel zu sagen. Schnell den Laptop auf den Tisch gelegt und die gelben Karteikarten sortiert, auf der säuberlich Zahlenkolonnen von Arbeitslosigkeit bis Erziehungszeiten notiert sind. Der Mann hat eine Mission. Es kann los gehen - mit einem Resumée über das Arbeitsleben als einer der streitbarsten Sozialrichter Deutschlands und das Gefühl, manchmal im falschen System zu sein.
"Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten", beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen - es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten, so der ehemalige Sozialrichter.
"Man macht Opfer zu Tätern"
Im Januar werden die Hartz-IV-Reformen zehn Jahre alt und die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Auch dies sei, so Borchert, kein Erfolg: "Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt - mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen." Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. "Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden." Hartz IV erwecke den Eindruck, als ob die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Versagen sei. "Man macht Opfer zu Tätern", so Borchert.
Ein handfester Konstruktionsfehler im Rentensystem schaffe zusätzlich Druck - denn den so genannten Generationenvertrag gebe es gar nicht. Der pensionierte Richter und Autor von Büchern wie der "Sozialstaatsdämmerung" erklärt dies anschaulich: "Bei der Rentenreform 1950 war die Idee, den Staat wie eine soziale Großfamilie zu organisieren. Konkret hieß das: Wenn die Gesellschaft die Alterslasten trägt, muss sie auch den Aufwand für die Kinder tragen. Die Leute sollten so auch die Zusammenhänge kapieren. Konrad Adenauer hat dann verhindert, dass spiegelbildlich zur Altersrente auch die Kindheits- und Jugendrente Gesetz wird. Eine Verstümmelung des Generationenvertrags und eine asoziale Weichenstellung zu Lasten der Mehrkinderfamilien."
Adenauer hat sich getäuscht
Konrad Adenauer hatte einst gesagt: "Aber Kinder kriegen die Leute doch immer." Dass dies ein Denkfehler war, zeigen die demografischen Zahlen deutlich. Denn so wie im Babyboom der 1950er Jahre ging es nicht weiter. Die Geburtenzahlen haben sich gegenüber 1964 von 1,35 Millionen auf 660 000 im letzten Jahr mehr als halbiert. Gleichzeitig hat sich der Anteil der Kinder in Familien, die Sozialhilfe oder Hartz IV beziehen, versechzehnfacht - von jedem 75. Kind unter sieben Jahren auf jedes fünfte Kind insgesamt. Borchert resümiert: " Je weniger Kinder geboren werden, desto katastrophaler ist deren Situation. Armut im Kindesalter beschädigt die Bildungsfähigkeit."
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"Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs", erklärt Sozialrichter Jürgen Borchert. Nach zehn Jahren Hartz IV-Reformen und Konstruktionsfehlern im Rentensystem sieht er auf Deutschland eine "sozialpolitische Katastrophe" zukommen. Stimmen Sie dieser Prognose zu?
Im Jahr 2030 sieht der Jurist eine sozialpolitische Katastrophe auf das Land zukommen. Seine Berechnungen: Die geburtenstarken Jahrgänge von 1965 gehen in den Ruhestand. Das dürften um die 1,1 Millionen neue Rentner pro Jahrgang sein. Dem stehen die Geburten der Jahrgänge 2008 bis 2012 gegenüber - das sind jeweils 650 000. Von diesen 650 000 gehen die Qualifiziertesten, rund 100 000, ins Ausland. Der Anteil der Kinder, die die Schule ohne ausreichende Kenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens verlassen, liegt bei rund 20 Prozent. Diese fallen für den Arbeitsmarkt aus, müssen mitversorgt werden. Am Ende bleiben pro Jahrgang um die 420 000 junge Leute, die die Rentnerschwemme und alle anderen Soziallasten schultern müssen.
Jürgen Borchert tritt für eine Bürgerversicherung ein, in der die Menschen entsprechend ihrer Kinderzahl weniger oder mehr einzahlen. Denn eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern und Durchschnittseinkommen werde jetzt schon "finanziell stranguliert". Er warnt: "Da herrscht ein höllischer ökonomischer Stress, der auch emotional durchschlägt."
Jürgen Borchert, 65, war bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Wochen Vorsitzender Richter des 6. Senats des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt. Er studierte Jura, Soziologie und Politologie in Freiburg, Genf und Berlin. In seiner Dissertation entwickelte er Leitlinien für ein familiengerechtes Rentensystem. Das Thema lässt ihn seitdem nicht los; er kämpft durch alle Instanzen gegen die Missachtung der Kinder durch die Politik, fordert eine Generalreform der Sozialpolitik. Er ist der Architekt der Verfassungsbeschwerden, die 1992 zum "Trümmerfrauenurteil" und 2001 zum "Pflegeurteil" führten. Dass heute Erziehungszeiten bei der Rente angerechnet werden und Kinderlose einen höheren Pflegebeitrag zahlen, geht unter anderem auf ihn zurück. 2008 rief sein Senat das Bundesverfassungsgericht an, um die Berechnung der Hartz-IV-Leistungen zu überprüfen. Das Gericht folgte 2010 diesem Urteil. Borchert ist Gründungsmitglied der Neuen Richtervereinigung. Außerdem ist er im wissenschaftlichen Beirat von Attac aktiv.