Sozialpolitik:Hartz, aber fair

Deutschland geht mit denen, die am Arbeitsmarkt straucheln, nicht immer anständig um. Sanktionen sind nötig, aber Überhärte erzeugt Unwucht beim Fördern und Fordern.

Von Hendrik Munsberg

Die Deutschen werden in aller Welt um ihr Sozialsystem beneidet. Und es stimmt ja: Der Staat hilft den Bürgern mit vielen Milliarden - von der Kita bis zum Pflegeheim. Und doch gibt es in diesem wohlgenährten Fürsorgeorganismus eine schwärende Wunde, die SPD-Kanzler Gerhard Schröder einst hinterließ: Hartz IV. Was im Amtsdeutsch Arbeitslosengeld II heißt und als Grundsicherung gedacht ist, entzweit Politik und Gesellschaft. Vermittlung ausgeschlossen? Das wäre schade.

Kein Zweifel: Ein Leben mit Hartz IV, das ist eine Existenz am Rande des Existenzminimums. Seit Anfang 2019 liegt der monatliche "Regelbedarf für Alleinstehende" bei 424 Euro - das sind acht Euro mehr als noch im Dezember. Hinzu kommt die Hilfe für eine "angemessene Unterkunft", pro Kind gibt es zwischen 245 und 339 Euro. Die Hartz-IV-Welt, das ist die karge Welt der kleinen Zahlen. Etwa vier Millionen "erwerbsfähige Leistungsberechtigte" führen dieses Dasein.

Doch neueste Daten der Arbeitsagenturen zeigen auch: Die Zahl derer, die von Hartz IV leben müssen, ging seit Einführung der Reform vor 14 Jahren deutlich zurück - trotz Flüchtlingskrise; erstmals sind weniger als drei Millionen Haushalte betroffen.

Aber: Geht Deutschland anständig mit denen um, die am Arbeitsmarkt straucheln oder scheitern? In wenigen Tagen wird sich das Bundesverfassungsgericht mit dem berühmt-berüchtigten Hartz-IV-Leitmotiv beschäftigen, dem "Fördern und Fordern". Ermächtigt das den Sozialstaat, Hilfsbedürftigen bei Regelverstößen die Unterstützung zu kürzen?

Jene Hartz-IV-Sanktionen wollen große Teile der SPD, genau wie Grünen-Chef Robert Habeck, unbedingt abschaffen - und damit den Zwang zu "zumutbarer Arbeit". Die Union hingegen verweist darauf, das "Fördern und Fordern" habe schließlich bewirkt, dass die Arbeitslosenzahl so gering ist, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn sagte es besonders gefühllos. Er beschied die Deutschen, mit Hartz IV habe jeder, "was er zum Leben braucht".

Offenkundig hängt die Haltung zu Hartz IV davon ab, ob der Urteilende ohne die Sorge leben kann, irgendwann selbst auf 424 Euro "Regelbedarf" abzustürzen. Oder ob er - in den Kategorien von Politikern gedacht - nur das sagt, wovon er glaubt, dass seine Wähler es gern hören.

Gegen solche Parteilichkeit hat der Philosoph John Rawls einen lebensklugen Schutz ersonnen, der auch hilft, Hartz IV zu beurteilen. Rawls gibt, kurz gesagt, diesen Rat: Wer eine Reform bewerten will, begebe sich hinter den "Schleier des Nichtwissens". Soll heißen: Auch wer heute bestens lebt, möge sich vorstellen, unvermutet selber Hartz-IV-Empfänger zu werden, die moderne Arbeitswelt kann unerbittlich sein. Das schärft den Blick für die Verlierer und fördert gerechtes Denken.

Das Sozialgesetzbuch ermächtigt die Jobcenter zu hartem Vorgehen

Wie also reformiert man Hartz IV, damit es in Deutschland fairer zugeht? An erster Stelle müssen die Sanktionen besprochen werden. Fest steht: Das Sozialgesetzbuch ermächtigt die Jobcenter zu hartem Vorgehen. Seit Jahren werden Hunderttausende Hartz-IV-Empfänger finanziell bestraft, wenn sie Termine versäumen oder sich weigern, "zumutbare Arbeit" anzunehmen. Aber darf der Sozialstaat die Hartz-IV-Sätze drastisch kürzen, wenn er sie doch als Existenzminimum betrachtet? Das werden die Verfassungsrichter vom 15. Januar an klären.

Für Robert Habeck ist die Sache schon klar: "Der Mensch", sagt er, "ist kein fauler Hund." Habeck will, genau wie der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert, die Sanktionen komplett streichen. Das klingt gut, falsch wäre es trotzdem. Zu Recht wendet Bundesagentur-Chef Detlef Scheele ein: "Was soll denn ein Vermittler tun, wenn ein Arbeitsloser mehrfach nicht zum Termin erscheint?" In solchen Fällen kürzen die Jobcenter die Regelsätze um zehn Prozent, für die Dauer von drei Monaten. Das ist gut begründbar: Wer ernsthaft Arbeit sucht, der sollte zumindest Termine einhalten oder rechtzeitig verschieben können. Der Druck des Staates hat auch eine gute Seite: Er kann Menschen bewegen, aus der Grundsicherung herauszufinden, das zeigen die jüngsten Zahlen aus Nürnberg. Was sie nicht zeigen: Dieser Druck muss aber auch angemessen sein und auf die Richtigen ausgeübt werden.

Die Kürzungen werden unverhältnismäßig, sobald sich die Hilfsbefohlenen weigern, zugewiesene Stellenangebote anzunehmen oder "Eingliederungsmaßnahmen" anzutreten. Dann sind binnen Kurzem Abzüge von 30 Prozent, im Wiederholungsfall 60 oder gar 100 Prozent, vorgesehen. Hier weht, ausgerechnet aus dem Sozialgesetzbuch, der Ungeist des Kujonierens. Sanktionen mit Augenmaß wären auch an dieser Stelle legitimierbar, aber Überhärte erzeugt eine Unwucht beim Fördern und Fordern. Es wäre erstaunlich, wenn Karlsruhe derart rigide Abstriche beim Existenzminimum billigte.

Das gilt erst recht, weil im Hartz-IV-System kaum mehr zählt, wie viel und wie lange jemand in die Sozialkassen eingezahlt hat, ehe er zum Fall für die Grundsicherung wurde. Wer über viele Jahre hinweg zur Arbeitslosenversicherung beitrug, verdient mehr Zeit, damit er nicht den erstbesten "zumutbaren", aber schlecht bezahlten Job annehmen muss. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil liegt richtig, wenn er gerade hier Korrekturen fordert.

Statt mit überzogenen Strafen abzuschrecken, sollte der Staat lieber die Zuverdienstregeln ändern. Heute fährt am besten, wer Hartz IV mit Schwarzarbeit kombiniert. Wer aber als Minijobber regulär 450 Euro extra verdienen möchte, behält davon demotivierend wenig übrig. Dabei müsste gerade derjenige ermuntert werden, den es auf den Arbeitsmarkt drängt.

Fairness gebietet, auch diese Frage zu stellen: Könnte sich Deutschland großzügigere Hartz-IV-Regelsätze leisten? Bereits 2014 stufte Karlsruhe die Hilfen als "derzeit noch verfassungsgemäß" ein. Das heißt wohl: Es gäbe Luft nach oben.

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