Süddeutsche Zeitung

Soziale Medien:Hashtags bringen die Demokratie nicht weiter

Die öffentliche Debatte findet immer stärker in den sozialen Medien statt. Doch dort wird sie gelenkt - und es regiert der Hass. Wieso haben Politiker das noch nicht verstanden?

Von Jagoda Marinić

Als ich 2009 meinen Account einrichtete, war Twitter genau drei Jahre alt. Damals antwortete der Gründer Jack Dorsey so gut wie jedem Nutzer noch persönlich. Es war aufregend, mit Menschen auf der ganzen Welt ins Gespräch zu kommen. Twitter sollte eine Plattform werden, an der Nutzer Freude haben - wobei schon der Begriff Plattform irreleitet. Soziale Medien sind gelenkte Interaktion, sie wollen ihre Nutzer lenkbar machen und ihre Besitzer reicher.

Auch heute sollen Nutzer ihre Freude haben. Und zwar alle Nutzer. Diese Woche verteidigte Jack Dorsey die Entscheidung, Tweets des Verschwörungstheoretikers Alex Jones nicht zu löschen. Facebook weigert sich, Posts von Holocaustleugnern zu entfernen. Google brüstet sich damit, bald eine Suchmaschine präsentieren zu können, mit der auch China zufrieden wäre.

Die großen Fragen der Meinungsfreiheit werden derzeit im Silicon Valley erörtert. Das Problem: Sie werden auch dort entschieden. Ein Aufschrei dagegen käme vermutlich als Hashtag daher und würde bald verpuffen. Viele Politiker haben die Macht dieser Konzerne nicht verstanden. Jene, die verstanden haben, nutzen sie vor allem für die Spaltung. Nigel Farage bedankte sich bei Zuckerberg für den Brexit.

Internet-Pionier Jaron Lanier liefert in seinem jüngsten Buch zehn Gründe, warum jeder seine Social-Media-Accounts löschen sollte. In Deutschland wird meist noch auf der Anwendungsebene diskutiert: Wie abhängig werden Nutzer? Wie digital kompetent sind unsere Kinder und Jugendlichen? Darauf lassen sich teilweise beruhigende Antworten finden. Weniger beruhigend fallen sie aus, wenn die Frage lautet: Was geschieht mit der Demokratie und ihren Bürgern, wenn weite Teile der öffentlichen Debatte auf diese Weise ökonomisiert werden? Die klassischen Medien lieferten Nachrichten. Soziale Medien hingegen wollen die Plattformen der Debatte sein. Werden sie sich einem Verschwörungstheoretiker widersetzen, wenn dieser mehr Reichweite und Aufmerksamkeit, ergo mehr Geld bringt?

Alle Dissidenten der Tech-Industrie warnen vor der Manipulation der Aufmerksamkeit, vor dem Suchtfaktor Dopamin. Sie sprechen von einem Experiment an der Menschheit. Die Algorithmen der Plattformen sind, der erhöhten Interaktion wegen, auf Radikalisierung programmiert. Bürger verbringen immer mehr Zeit im Netz, digitale Debatten ersetzen zunehmend klassische Formen der Partizipation. Die Aktivitäten vieler Bürger und Experten bündeln sich dort, digitale Analphabeten sind naturgemäß ausgeschlossen. Jaron Lanier mahnt: "Soziale Medien hassen eure Seele!" Hassen sie auch die Seele der Demokratie?

Immer mehr Politiker positionieren sich zu allem über Tweets

"Eine Plattform für alle Ideen", beteuert Zuckerberg gerne, als würden Ideen auf Facebook neutral zur Verfügung gestellt. Doch auch hier gewinnt, wer am meisten bezahlt. Selbst Kritiker bezahlen. Unter Heiko Maas beispielsweise, der das Netz-DG auf den Weg brachte, war das Bundesjustizministerium einer der Top-Werbekunden bei Facebook. Noch mehr gab das Verteidigungsministerium aus, das unter anderem in digitale Rekrutierungskampagnen beinahe 3, 5 Millionen Euro investierte.

Darüber, ob in Schulen rekrutiert werden sollte, wurden noch Debatten geführt. Über das Internet rekrutiert man sogar in den Wohnungen der Jugendlichen, finanziert durch Steuergeld. Ergebnis? Noch nie gingen so viele Minderjährige zur Bundeswehr. Gleichzeitig lässt sich beobachten, wie die Fitness-Industrie über Instagram weltweit eine Generation von Fitness-Guru-Acai-Bowl-Influencern kreiert, die höchstens noch von Kokosraspeln träumt statt von einer besseren Gesellschaft. Diskutiert wird diese digitale Modellierung von Massen oft erst, wenn das Ergebnis sichtbar wird.

Das Dilemma: Kritiker benennen die Risiken der sozialen Medien, doch brauchen sie deren Verteiler, um die Zielgruppen zu erreichen. Vor allem Tageszeitungen übernehmen oft unkritisch digitale Storys: Was online trendet, muss gedruckt werden. Obwohl gerade das den Spott sichert: Zeitungen sind die Blätter, in denen steht, was gestern im Netz stand, heißt es dann.

Vielleicht sehen sich herkömmliche Medien durch das Bedürfnis von digitalen Trendsettern, auch hier präsent zu sein, in ihrer Bedeutung bestärkt. Dabei unterschätzen sie sich oft selbst. So wie ihre Möglichkeiten, die digitalen Leser eigenständig zu erobern. Die New York Times zeigt derzeit durch den rapiden Anstieg an digitalen Abonnements, wie es anders gehen könnte.

Zurück zu Twitter und Deutschland: Hier ist Jack Dorseys blauer Vogel noch immer ein Nischenphänomen. Doch immer mehr Politiker und Medienschaffende positionieren sich zu allem über Tweets. Es ist, als wäre Hashtags-Erfinden ein Aufbaustudiengang. Wie frustrierend muss es da sein, wenn der renommierte Medienkritiker Jay Rosen nach seinem Aufenthalt in Berlin bilanziert: Twitter lässt sich in Deutschland getrost ignorieren. Doch gerade die Printmedien übernehmen jeden Hashtag, als stünde eine soziale Bewegung dahinter. Man möchte nicht hintanstehen. Twitter stattdessen für Hintergrundinformationen und mehr Transparenz für Leser und Zuschauer zu nutzen wäre erfolgversprechend, wie die Reichweite in den USA zeigt. Umgesetzt wird das zu wenig.

Die digitale Demokratie ist eine gefährliche, wenn sie in den Händen von Silicon Valley bleibt. Für den digitalen Weg, die Demokratie und ihre Werte zu verteidigen, gibt es hierzulande leider keine Strategie, obgleich man aus Fehlern anderer Länder lernen könnte. Online agieren allmählich auch jene, die für die gute Sache zu kämpfen meinen, im Modus "Gegen die anderen!" Sie mutieren zu Zerrbildern der Trolle, die sie bekämpfen - und erfahren so mehr gelenkten Hass.

Auf Plattformen, die allen offenstehen, werden Empathie-Kampagnen geführt, dabei ist das Internet eben kein geschützter Raum. Hier kann eine Gesellschaft nicht therapiert werden. Das Internet braucht derzeit gute Analytiker, die Nutzern helfen, die Mechanismen der Mobilisierung zu durchschauen. Stattdessen weitet sich die Kampfzone aus. Ein Kampf, der vorwiegend in demokratische Institutionen und auf die Straßen statt ins Netz gehört. Bitte jetzt nicht tweeten oder teilen.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2018/fued
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