Ende des Kalten Kriegs:Wurde die Sowjetunion vom Westen verraten?

Ende des Kalten Kriegs: Als Helmut Kohl (links) und Michail Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verhandelten, spielte das Thema Nato schon keine Rolle mehr. Davor liegt eine Grauzone.

Als Helmut Kohl (links) und Michail Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verhandelten, spielte das Thema Nato schon keine Rolle mehr. Davor liegt eine Grauzone.

(Foto: dpa)

Nach russischer Lesart gab es eine Zusage an den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, dass sich die Nato nicht ausdehnen würde. Bis heute beharrt Russland auf dieser Deutung. Die Archive sind da längst weiter.

Von Stefan Kornelius

Es waren schicksalhafte Tage im Februar 1990 - Tage, die über Europas Sicherheit entschieden haben und bis heute auch Anlass für neue Unsicherheit geben. Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze mit einer vermeintlichen Bedrohung durch die Nato rechtfertigt, dann kommt er stets auch auf diesen historischen Schlüsselmoment zu sprechen.

Putin selbst hat die Zeit in seinem Büro in der Dresdner Angelikastraße (nicht Angela-), dem KGB-Dienstsitz in Sachsen, erlebt. Aus seiner Perspektive demonstrierten die Massen auf dem Leipziger Ring, stürmten die Stasi-Büros und läuteten den Untergang der Supermacht Sowjetunion ein. Die Dresdner KGB-Dependance wurde verschont, aber für Putin waren die Erlebnisse traumatisch.

Der Vorwurf, erhoben vom heutigen Präsidenten, seinem Außenminister und einer langen Reihe russischer Würdenträger: Die Sowjetunion wurde 1990 vom Westen verraten, weil die Nato die wohl wichtigste Zusage mit Blick auf die Sicherheit nicht eingehalten hat: Die Atlantische Allianz, so die russische Lesart, würde sich niemals nach Osten ausdehnen, und selbst das vereinigte Deutschland würde niemals komplett Mitglied des Bündnisses werden.

Dieses Narrativ hat sich in die Köpfe der russischen Führung eingebrannt. Allein: Die Behauptung ist nicht richtig, die historisch belegbaren Zusagen und Verabredungen sind weitaus komplexer, die Debatte über eine europäische Sicherheitsarchitektur wurde lange nach dem deutschen Vereinigungsjahr weitergeführt.

Die Archive sind geöffnet, die Quellen verfügbar

Die Quellenlage darf inzwischen als reich bezeichnet werden: Die Archive der Regierungen Helmut Kohl, George Bush (USA) und Bill Clinton (USA) sind geöffnet, private Aufzeichnungen und Briefe der außenpolitischen Akteure wie Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse oder James Baker wurden veröffentlich. Auch der letzte Sowjetführer, Generalsekretär Michail Gorbatschow, hat sich - angestiftet vom Beispiel Kohls - zur Veröffentlichung seiner Papiere entschlossen.

Niemand hat das Material gründlicher aufgearbeitet als die Historikerin Mary E. Sarotte, die gerade ihr drittes Buch zum Ende des Kalten Kriegs und über die 90er-Jahre aus sicherheitspolitischer Sicht veröffentlich hat ("Not One Inch", Yale University Press). Sarotte wird gerne ihre amerikanische Staatsbürgerschaft als Parteilichkeit ausgelegt, aber der Vorwurf ist konstruiert - niemand hat sich mehr um historische Gerechtigkeit bemüht als sie.

So ist es ihr gelungen, die bedeutsamen Tage zwischen dem 6. und 25. Februar 1990 zu rekonstruieren, in denen Gorbatschow in die Vereinigung Deutschlands einwilligte. Gorbatschow tat dies in einem Gespräch mit dem damaligen Bundeskanzler Kohl in Moskau. Vorausgegangen waren Besuche der Außenminister Genscher und Baker in der sowjetischen Hauptstadt. Vor allem der Amerikaner Baker hinterließ in seinem Gespräch mit Gorbatschow am 9. Februar den Eindruck, dass ein vereinigtes Deutschland zwar Mitglied in einer "(politisch) veränderten Nato" werden könne, deren Geltungsbereich aber "nicht ostwärts" ausgedehnt würde (so festgehalten in seinen eigenen Notizen).

Das Weiße Haus war von dem Vorstoß des eigenen Ministers freilich überrumpelt und schickte noch am selben Tag einen Brief des Präsidenten an Kohl, in dem Bush einen "speziellen militärischen Status" für Ostdeutschland vorschlug, ansonsten aber klarmachte, dass Deutschland insgesamt Mitglied der Nato werden müsse. Erweiterungsgedanken wurden damals überhaupt nicht erwogen - der Warschauer Pakt bestand noch ein Jahr länger.

Kohl kannte beide US-Positionen und konnte keinen Zweifel an der Entschlossenheit Bushs hegen, als er im entscheidenden Gespräch mit Gorbatschow am 10. Februar die mündliche Formulierung wählte, dass "sich die Nato natürlich nicht auf das Territorium Ostdeutschlands ausdehnen" werde. In diesem Gespräch erhielt Kohl die Zusage Gorbatschows zur Vereinigung. Gorbatschow stand natürlich unter dem Eindruck der Zusicherung Kohls, musste aber auch gewusst haben, dass der deutsche Bundeskanzler keine Entscheidung im Namen der gesamten Nato treffen konnte.

Kohl räumte die Zweifel mit ein paar Milliarden aus

14 Tage später, während eines Treffens Kohls mit Bush auf dem Landsitz des amerikanischen Präsidenten, Camp David, relativierte Kohl seine Aussage und widersprach dem US-Präsidenten nicht, der sagte: "Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, nicht sie." Kohl, ganz Pragmatiker, hatte längst die größten Nöte Gorbatschows erkannt, dem sein Land ökonomisch zu kollabieren drohte. Deutschland offerierte der Sowjetunion Milliardenhilfen, deklariert als Finanzierung des Truppenabzugs aus der DDR.

Gorbatschow selbst, so lassen sich seine Aufzeichnungen interpretieren, wurde nie primär von sicherheitspolitischen Überlegungen geleitet. Er beharrte nie auf einer Verschriftlichung der mündlichen Aussagen Bakers oder Kohls. Im Gegenteil: Nachdem sich Bushs Lesart durchgesetzt hatte und sie in einem ausführlichen Telegramm an den französischen Präsidenten vom April quasi dokumentiert wurde, schlug er noch eine paneuropäische Sicherheitsarchitektur unter Führung der Nato vor. Er ging sogar so weit, im Mai eine Mitgliedschaft der Sowjetunion ins Spiel zu bringen.

Rechtlich bindende Zusagen oder gar Verträge über die Rolle der Nato nach der Vereinigung hat die Sowjetunion also nie angestrebt. In den Verhandlungen über die Außenpolitik der deutschen Einheit (Zwei-plus-Vier-Gespräche) taucht das Thema nicht mehr auf. Es bleibt die Grauzone, die mündlich in den Tagen zwischen dem 8. und 25. Februar geschaffen wurde.

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