Sowjetunion:Gorbatschow - der anständige Anführer

Michail Gorbatschow

Hat sein Land und die Welt verändert: Michail Gorbatschow im Jahr 1992.

(Foto: Regina Schmeken)

Er sei schwer zu verstehen, sagt der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow über sich selbst. Der US-Historiker William Taubmann hat es versucht und eine packende Biografie geschrieben.

Rezension von Renate Nimtz-Köster

Wie es einmal war, wie es sein könnte, wie es ganz und gar nicht mehr ist: Die Bilder von gut gelaunten, ja strahlenden Regierungschefs bei Ost-West-Treffen der 80er-Jahre können elegisch stimmen: Michail Gorbatschow mit dem französischen Sozialisten François Mitterrand, mit kapitalistischen, aber nachdenklichen Führern wie Helmut Kohl oder Margaret Thatcher, mit dem erzkonservativen Ronald Reagan, der zum Freund wurde - der sowjetische Reformer fühlte sich wohler mit seinen westlichen Gesprächspartnern als mit engstirnigen osteuropäischen Parteihäuptlingen wie Erich Honecker oder Nicolae Ceaușescu.

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist der Politiker, der mit "Glasnost" und "Perestroika" sein Land umgestaltete, Abrüstung und die Beendigung des Kalten Krieges möglich machte, schon im Ruhestand. 87 Jahre ist er inzwischen alt. Wie konnte ein innovativer Mann wie er im starren Sowjetsystem Parteichef werden, was gab ihm den Glauben, den Einheitsstaat und die Weltordnung mit "evolutionären Mitteln", wie er sagte, friedlich verwandeln zu können?

Autobiografien, die Gorbatschow noch im Amt schrieb, und Aufzeichnungen von Weggefährten ließen immer noch Fragen zu dem Mann offen, der den einen als Held, den anderen als Verräter gilt. "Gorbatschow ist schwer zu verstehen", gestand er, der gern von sich in der dritten Person spricht, augenzwinkernd im Gespräch mit dem amerikanischen Historiker William Taubman ein.

Er war kein Meisterstratege, aber doch ein brillanter Taktiker

Nun, da die Eiszeit wiederum ausgebrochen ist, hat Taubman eine neue, umfassende Biografie des Staatsmanns vorgelegt: "Gorbatschow - Der Mann und seine Zeit" ist ein monumentales Werk, an dem der Pulitzerpreisträger zehn Jahre lang arbeitete.

Persönliche Gespräche mit Gorbatschow, seinen Vertrauten und seinen Gegnern, mit ausländischen Politikern und Zeitgenossen, Tagebücher sowie Dokumente und Materialien aus internationalen Archiven hat der Politikwissenschaftler vom Amherst College in Massachusetts zu einer fesselnden Lektüre gefügt.

Der Experte für sowjetische Geschichte, der 2004 für seine Chruschtschow-Biografie ausgezeichnet wurde, analysiert Gorbatschow als "vielschichtige starke Persönlichkeit", extrem selbstbewusst, "intuitiv demokratisch". Er sei ein "ausschweifender Redner", kein Meisterstratege, aber doch ein brillanter Taktiker, dem Gewalt zuwider war: Letztendlich "für einen Führer ein bemerkenswert anständiger Mann".

Kaum zu glauben, aber Taubman gelingt es, den Leser über 811 Seiten (weitere rund 100 beansprucht der akribische Apparat von der "Liste der Akteure" über das Glossar bis zum Personenregister) bei der Stange zu halten - weil der Historiker dem Leser das Gefühl gibt, in den dramatischen Jahren der Gorbatschow-Ära zwischen 1985 und 1991 mittendrin gewesen zu sein: ob im Innersten des sowjetischen Machtapparats, wo wenige Reformbereite mit den Hardlinern kämpften, oder auch in den Zirkeln der westlichen Machthaber, die Gorbatschow nach anfänglichen Zweifeln einen Triumph bereiteten, ihm dann aber die überlebenswichtige wirtschaftliche Unterstützung verweigerten.

Das bühnenreif erzählte Chaos des ersten Kongresses der Volksdeputierten 1989, dem Novum der weitgehend freien Wahlen, bei dem Gorbatschow die endlosen Debatten parlamentarischer Neulinge bis zur Erschöpfung leitete und auch noch nach den Sitzungen mit ihnen diskutierte, gehört zu den spannendsten Kapiteln, ebenso die Auseinandersetzungen mit Boris Jelzin, dem autoritären Populisten (Kapitel "Zwei Skorpione in einer Flasche"). Dass Gorbatschow mit Jelzin allzu lässig umging und ihn schließlich abstrafte, machte den anfangs nur lästigen Kritiker zum Erzfeind - auch dieses ein Verhalten von Gorbatschow, das schwer zu verstehen sei, schreibt Taubman.

Der Historiker scheut nicht die psychologische Deutung des Hauptakteurs und seiner Mitspieler, räumt auch der für Sowjetführer außergewöhnlichen Ehe mit Raissa Gorbatschowa Platz ein, die zeitlebens eine glückliche und ebenbürtige Partnerschaft war. Im Lande selbst wurde die elegante Akademikerin kritisch gesehen - ihre ständige Präsenz an der Seite des Parteichefs war zu ungewohnt.

Aufstieg des armen Bauernjungen aus dem Nordkaukasus

Im Westen, wohin sie Gorbatschow auf seinen triumphalen Auftritten begleitete, wurde die russische First Lady bewundert. Während Gorbatschow beispielsweise 1987 beim offiziellen Dinner in der Washingtoner sowjetischen Botschaft die Anwesenheit von Arthur Miller, Gore Vidal, Henry Kissinger oder auch Meryl Streep genoss, die Intellektuellen als "Hefe der Gesellschaft" bezeichnete und feststellte, dass "wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher", begeisterte Raissa die Literatin Joyce Carol Oates, über deren Buch "Engel des Lichts" sich die beiden austauschten.

Wie konnte ein Bauernjunge aus dem Nordkaukasus, der als Schüler für eine Hymne auf Stalin einen Preis bekam, mit der Perestroika die "zweite russische Revolution" (so der Titel seines Buches von 1987) bewirken? Laut Andrej Gratschow, einem der engsten Berater Gorbatschows, war der Reformer "ein genetischer Fehler des Systems".

Taubman sieht die Wurzeln für Gorbatschows Durchsetzungskraft und Optimismus auch im Glück, das der 1931 geborene Michail in schrecklicher Zeit erlebte. Zwangskollektivierung und Hungersnot, die Millionen von Bauern das Leben kostete, Stalins großer Terror, während dessen beide Großväter verhaftet wurden, Besetzung seines Dorfes durch die Wehrmacht - Michail übersprang zwar die Kindheit, wie er selber sagte, aber alle Schicksalsschläge wandten sich für die Familie zum Guten: Beide Großväter wurden bald wieder aus dem Lager freigelassen. Der geliebte Vater, als gefallen gemeldet, kehrte nach Hause zurück.

Cover

William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Verlag C.H. Beck, München 2018. 935 Seiten, 38 Euro. E-Book: 29,99 Euro.

Blick ins Buch

Nach dem Krieg wurde sein Sohn auf Druck der strengen Mutter ein ausgezeichneter Schüler. Michail gewann den hohen Orden des Roten Banners der Arbeit, für Mähdrescherfahren, bei dem Vater und Sohn sich über 20 Stunden lang auf dem Traktor abwechselten und Rekordernten einbrachten.

Michail Gorbatschow, klein, stämmig, gut aussehend, sei "geistig unabhängig und selbstbewusst bis zur Arroganz" gewesen, als er 1950 an der Staatlichen Universität Moskau sein Jurastudium begann, schreibt Taubmann, auch darin ein überaus harter Arbeiter, ein sogenannter "ambiziosnij". Er war bettelarm, oft ohne Socken in den Schuhen und monatelang im einzigen Anzug, "aber insgesamt fühlte ich mich großartig", beschrieb Gorbatschow selbst diese Zeit.

Der Leser begleitet ihn beim Aufstieg auf der Karriereleiter, beim katastrophalen Misslingen seines frühen Kampfes gegen den landesweiten Alkoholismus, bei zermürbenden und letztendlich erfolglosen Bemühungen um wirtschaftlichen Fortschritt in einem Land leerer Regale, auf den amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen 1987/88 mitsamt Vieraugengesprächen bis zum Putsch 1991 und den Jahren nach der Macht.

Zum ersten Mal seit sieben Jahrzehnten hatten 1989 weitgehend freie Wahlen stattgefunden, ein echtes Parlament den Obersten Sowjet abgelöst, der ein reines Akklamationsorgan gewesen war. Doch dasselbe Jahr, so Taubman, "war auch der Anfang vom Ende für die Perestroika": "Weil genau diese Innovationen die Institutionen beschädigten, die die sowjetische Gesellschaft bis dahin zusammengehalten hatten, und weil es nicht gelang, sie durch effektive neue zu ersetzen." Aus allzu großem Vertrauen in sich selbst und seine Sache habe Gorbatschow sich mit seinen hohen Zielen schließlich übernommen.

Warum eilte Gorbatschow am 21. August 1991 nach dem Sieg über die Putschisten nicht zum Moskauer Weißen Haus, um sich von der Menge, die nach ihm rufend gewartet hatte, feiern zu lassen? Auch dies eine nicht geklärte Frage. Gorbatschow nutzte den Moment, in dem er populärer als je zuvor war, nicht.

Soeben mit seiner Familie aus der Datscha auf der Krim wieder in Moskau gelandet, stieg er ins Auto und fuhr einfach nach Hause. Redefreiheit, Versammlungs- und Gewissensfreiheit habe Gorbatschow den Menschen geschenkt, die sie nie gekannt hatten, schreibt Taubman. Sein Land hätte er gern in einem "gemeinsamen Haus Europa" gesehen.

Gescheitert am "Rohmaterial"

Womöglich hundert Jahre werde es dauern, bis die Demokratie in Russland fest verankert sei, hat Gorbatschow selbst mittlerweile eingeräumt. Dass er letztendlich aufgeben musste, liegt laut Taubman "eher am Rohmaterial", an traditionellem Autoritarismus und fehlender Rechtsstaatlichkeit, als an Gorbatschows eigenen Versäumnissen und Fehlern. "Angesichts unserer russischen Mentalität hätte das neue Leben sofort auf dem Silbertablett serviert werden müssen," so äußerte sich Gorbatschow selbst, "jetzt und hier, ohne eine Reform der Gesellschaft."

Gegen den Vorwurf vieler Russen, er habe die UdSSR zerschlagen, wappne ihn das "dicke Fell" der Gorbatschows, meinte einmal sein Dolmetscher und Mitarbeiter Pawel Palaschtschenko. Wohl kaum hätte ein anderer sowjetischer Führer den späteren Zusammenbruch verhindern können, glaubt Taubman.

"Gorbatschow war ein Visionär, der sein Land und die Welt veränderte", resümiert der Historiker: "Das Ziel nicht ganz zu erreichen, ist noch lange kein Scheitern."

Renate Nimtz-Köster hat Romanistik und Slawistik studiert. Sie ist freie Wissenschaftsjournalistin.

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