Süddeutsche Zeitung

Sorgerecht:Dem Entsetzen folgen Taten

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Familiengerichte und Jugendämter greifen nach Erkenntnissen der Süddeutschen Zeitung härter durch - immer häufiger wird Eltern das Sorgerecht entzogen.

Felix Berth

Deutsche Jugendämter und Familiengerichte greifen immer häufiger in Familien ein. Eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung bei mehreren statistischen Landesämtern zeigt, dass im Jahr 2008 deutlich mehr Kinder aus ihren Familien herausgeholt wurden als im Vorjahr. In den meisten Bundesländern lag die Steigerung weit über zehn Prozent; in Hessen gab es 2008 sogar ein Drittel mehr Sorgerechts-Entzüge als 2007. Betrachtet man die vergangenen fünf Jahre, zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg: Inzwischen holen Jugendämter etwa fünfzig Prozent mehr Kinder aus ihren Familien heraus als im Jahr 2003.

Noch hat das Statistische Bundesamt die Gesamtzahlen für das Jahr 2008 nicht veröffentlicht, weil einzelne Länder bisher keine Daten geliefert haben. Betrachtet man die Ergebnisse aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen, zeigt sich - wie in den Vorjahren - ein deutlicher Trend: In diesen Ländern beantragten Jugendämter in 8700 Fällen, dass Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise entzogen wurde. Im Vorjahr hatte die Vergleichszahl bei 7800 gelegen; das entspricht einem Anstieg von zwölf Prozent.

Diese Entwicklung hat mehrere Ursachen. So sind Jugendämter - auch nach dem Entsetzen über einzelne Kindstötungen - vorsichtiger geworden. Sie achteten inzwischen stärker auf Bedürfnisse und Gefährdungen der Kinder, sagte die Chefin des Münchner Jugendamts, Maria Kurz-Adam, vor einigen Tagen: "Der Kinderschutz musste stärker ins Alltagshandeln der Jugendämter hineingeholt werden - das ist eindeutig gelungen."

Erleichtert wurde dies durch die Erweiterung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, die seit Anfang 2005 gilt. Das Gesetz verpflichtet Jugendämter seitdem explizit, ihren "Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung" wahrzunehmen. Sie müssen die Risiken für einzelne Kinder abschätzen und mit anderen Institutionen - etwa Kindergärten - kooperieren, um diese Kinder zu schützen. "Die Reform hat enorm viele positive Anstöße gegeben", sagt Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht. Das lange wenig beachtete Thema Kinderschutz sei in vielen Kommunen wesentlich wichtiger geworden.

Politisch bedeutsam sind die Daten, weil Familienpolitiker der großen Koalition seit einigen Wochen über ein neues Kinderschutzgesetz streiten. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will Jugendämter dazu anhalten, Hausbesuche zu machen, wenn sie von einer möglichen Gefährdung eines Kindes erfahren. Die SPD lehnt dies im Einklang mit vielen Experten ab, weil dies meist Standard sei und im Einzelfall Kinder gefährden könne. Auch beklagen Mitarbeiter von Jugendämtern, die Gesetzesinitiative von der Leyens unterstelle, dass die Behörden in Einzelfällen zu wenig zum Schutz gefährdeter Kinder unternähmen, obwohl sie in Wirklichkeit inzwischen mehr Kinder aus den Familien herausführten.

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SZ vom 16.06.2009/woja
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